Sklaverei sah früher so aus, heute hat sie andere Formen Sklaverei sah früher so aus, heute hat sie andere Formen 

„Mehr Sklaven als jemals zuvor“: Eine römische Sicht

Die Industrialisierung hat die klassische Sklaverei abgeschafft, die Ausbeutung von Menschen durch Menschen ist aber keineswegs beendet, sie hat nur schreckliche neue Formen angenommen. Wir veröffentlichen hier den Text eines Vortrages in der Katholischen Akademie Berlin vom 29. Juni.

Von Pater Michael Czerny SJ

Der Autor ist Untersekretär der Abteilung für Migranten und Flüchtlinge im päpstlichen Dikasterium für die Förderung der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen.

Die Katholische Kirche ist mit einem internationalen Netzwerk geistlicher Schwestern gesegnet, die Menschenhandel und Sklaverei bekämpfen. Es heißt „Talitha Kum” nach den Worten, die Jesus zu einem Kind sprach, das verstorben war. „Er fasste das Kind an der Hand und sagte zu ihm: Talitha kum, das heißt übersetzt Mädchen, ich sage dir, steh auf“ (Mk 5:41).

Mitte Februar kam es zu einem Treffen zwischen jungen Zuwanderern, die Menschenhändlern zum Opfer gefallen und versklavt worden waren, und jungen Italienern in Begleitung einiger Schwestern von Talitha Kum, die zu einem Gespräch mit Papst Franziskus zusammenkamen. Aus diesem Gespräch geht die „römische Sicht” hervor, die ich Ihnen nun darlegen möchte.[1]

Mein Beitrag behandelt vier Leitfragen: (1) Was ist Sklaverei? (2) Wer ist verantwortlich? (3) Wie sollen wir hinsehen und hinhören? (4) Was ist zu tun?

 

1) Was ist Sklaverei? Wodurch wird sie „modern” beziehungsweise „zeitgenössisch“?

 

Unser Titel lautet „Sklaverei heute“ beziehungsweise „moderne Sklaverei“. Wenn unser Thema „Mord“ wäre, würden wir dann das Adjektiv „modern“ oder „heutig“ hinzufügen, um ihn vom antiken beziehungsweise klassischen Mord abzuheben? Das glaube ich nicht. Denn wir stimmen doch überein, dass Mord - aus welchen Gründen er auch immer zu irgendeiner Zeit begangen wird - falsch, verbrecherisch, sündhaft ist. Aber denken wir auch genauso über Sklaverei?

Es hat in der Geschichte Millionen von Sklaven in verschiedenen Weltreichen gegeben – bei den Azteken, den Chinesen, den Griechen, den Inka, den Römern, den Osmanen und so weiter. Viele dieser Sklaven waren Kriegsgefangene, andere wurden zu entführt, um dann als Handelsware zu dienen. In der jüngeren Geschichte wurde Sklaverei in Verbindung mit Kolonialismus und kommerziellem Sklavenhandel ausgeübt. Seit der Antike wurde Sklaverei somit bis noch vor relativ kurzer Zeit als etwas Normales, Natürliches, Unvermeidliches und Notwendiges gesehen. Jedoch ist und bleibt Sklaverei in jeder Zeit und in jeder Form etwas Entwürdigendes und Empörendes, selbst wenn sie über ganze Zeitalter hinweg als schlichte Tatsache galt.

„Seit der Antike wurde Sklaverei bis noch vor relativ kurzer Zeit als etwas Normales, Natürliches, Unvermeidliches und Notwendiges gesehen. Jedoch ist und bleibt Sklaverei in jeder Zeit und in jeder Form etwas Entwürdigendes und Empörendes, selbst wenn sie über ganze Zeitalter hinweg als schlichte Tatsache galt.“

Die industrielle Revolution, die menschliche und tierische Kraft durch kohlebefeuerte Energie ersetzte, hat letztlich die weiträumige Abschaffung der Sklaverei ermöglicht. Doch trotz der formalen Abschaffung der Sklaverei ist die Ausbeutung von Menschen durch Menschen keineswegs beendet. Sie findet vielmehr jetzt in schrecklichen neuen Formen in großem Umfang statt. Warum werden eigentlich in einer globalisierten Wirtschaft, die zur Wohlstandssicherung deutlich weniger menschliche Arbeit zu verlangen scheint, dennoch heute mehr Menschen in Sklaverei gehalten als jemals zuvor?

Die Sklaverei behandelt Menschen auf vielfältige unvorstellbare Arten als Handelsware, die gekauft und verkauft und als Arbeitskraft ausgebeutet werden kann, oder setzt sie sogar als Rohstoff ein. Hier werden Menschen gegen ihren Willen an Orte verbracht, an denen sie auf zutiefst verwerfliche Weise missbraucht werden. Somit kommt es zu einer Überlappung von “Menschenhandel” und “moderner Sklaverei“, obwohl die beiden Phänomene durchaus zu unterscheiden sind.

 

2) Wer ist verantwortlich?

 

In Sachen Menschenhandel herrscht zweifellos ein hohes Maß an Unwissenheit. Aber manchmal dürfte auch wenig Bereitschaft vorhanden sein, den Umfang dieses Problems überhaupt verstehen zu wollen. Warum? Weil es uns im Innersten des Gewissens berührt; weil es ein heißes Eisen ist; weil es Scham hervorruft. Niemand gibt schließlich gerne zu, dass in seiner eigenen Stadt oder sogar in der Nachbarschaft, im eigenen Bundesland oder Staat diese neuen Formen der Sklaverei vorkommen, obwohl wir doch wissen, dass diese Geißel in fast allen Ländern vorkommt.[1]

Wir können dabei drei Ebenen der Verantwortung unterscheiden: Regierungen, Täter und Kunden beziehungsweise Endverbraucher:

„Niemand gibt gerne zu, dass in seiner eigenen Stadt oder sogar in der Nachbarschaft, im eigenen Bundesland oder Staat diese neuen Formen der Sklaverei vorkommen.“

(1)  Erstens brauchen Länder eine angemessene Wirtschaft, Infrastruktur und Rechtsstaatlichkeit, um Sicherheit, materielle Güter und Grundrechte für ihre Bevölkerung zu gewährleisten. Wo aber all diese Voraussetzungen fehlen, wo extreme Armut, Gewalt und Korruption zu finden sind, da können allzu leicht Menschenhandel und Versklavung einsetzen. Organisierte Kriminalität, Drogen- und Menschenhandel suchen ihre Beute unter Menschen, die am wenigsten Mittel zur Deckung des Grundbedarfs und die geringste Hoffnung auf eine bessere Zukunft haben.

(2) Zweitens: die Täter und ihre Komplizen wollen vermeiden, dass über Sklaverei gesprochen wird, weil sie aus dem Menschenhandel enorme Gewinne erzielen. „Sklavenarbeit und Menschenhandel verlangen oft eine Mittäterschaft von Helfershelfern in den Reihen der Polizei, der Beamten oder ziviler und militärischer Institutionen.”[2]

(3)  Drittens: Am Ende der Lieferkette stehen die Verbraucher der Waren und die Abnehmer der Leistungen, die in Privathaushalten und Fabriken, auf der Straße oder im Internet angeboten werden. Ja, es braucht Mut und Ehrlichkeit um zuzugeben, „dass wir in unserem Alltag in Versuchung geraten, Dinge in Anspruch zu nehmen, die möglicherweise durch Ausbeutung anderer Menschen produziert worden sind”.[3] Wenn es so viele junge Frauen als Opfer des Menschenhandels gibt, die auf den Straßen unserer Städte landen, dann ist das deswegen so, weil viele Männer hier – jüngeren, mittleren, vorgerückten Alters; unsere Väter, Brüder, Söhne – diese Dienste verlangen und bereit sind für ihre Lust zu bezahlen.

 

3) Papst Franziskus lädt uns ein, hinzuschauen und hinzuhören – in seinen eigenen Worten

 

„Der Handel mit Menschen, eine moderne Form der Sklaverei … verletzt die gottgegebene Würde von sehr vielen unserer Brüder und Schwestern und stellt ein echtes Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.”[4]

„Ich bin seit jeher zutiefst erschüttert vom Los all derer, die verschiedenen Formen des Menschenhandels zum Opfer gefallen sind. Wie sehr wünsche ich, dass wir alle Gottes Schrei hören würden: „Wo ist dein Bruder?” (Gen. 4,9). Wo ist dein Bruder, deine Schwester, die versklavt sind? Wo ist der Bruder oder die Schwester, die du jeden Tag in heimlich betriebenen Warenlagern tötest, in Prostituiertenringen, in Kindern, die als Bettler missbraucht werden, die bei Schwarzarbeit ausgebeutet werden? Wir dürfen da nicht wegschauen. Da ist mehr Mittäterschaft im Spiel, als wir denken. Das Thema betrifft jeden und jede! Dieses schändliche kriminelle Netzwerk hat sich mittlerweile fest in unseren Städten eingenistet, und viele haben Blut an ihren Händen, weil sie bequem und verschwiegen Mittäter geworden sind.”[5]

„Wie schrecklich ist die Erkenntnis, dass viele junge Opfer zuerst einmal von ihren Familien preisgegeben worden sind, ja von ihrer Gesellschaft aus Ausschuss betrachtet werden.“

Und „wie schrecklich ist die Erkenntnis, dass viele junge Opfer zuerst einmal von ihren Familien preisgegeben worden sind, ja von ihrer Gesellschaft aus Ausschuss betrachtet werden.“ Viele wurden durch ihre eigenen Familien und so genannte Freunde in den Menschenhandel eingeführt. Auch in der Bibel geschah dies schon: denken wir nur daran, dass die älteren Brüder den kleinen Joseph als Sklaven verkauften, so dass er dann in Ägypten in Knechtschaft lebte (siehe Gen 37,12-36).”[6]

„Ich habe nie eine Gelegenheit ausgelassen, um Menschenhandel ganz offen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu brandmarken.”[7] Es ist „eine echte Form der Sklaverei, die sich leider immer weiter ausbreitet, die jedes Land ansteckt, auch die höchst entwickelten Länder. Es ist eine Realität, die die schwächsten Menschen in der Gesellschaft befällt: Frauen aller Altersstufen, Kinder, die Behinderten, die Ärmsten, und diejenigen, die aus zerbrochenen Familien und aus belasteten Situationen in der Gesellschaft kommen”.[8]

„Die Katholische Kirche beabsichtigt in jeder Phase des Menschenhandels einzuschreiten: sie möchte Menschen vor Täuschung und falschen Verheißungen bewahren; die Kirche möchte die Opfer des Menschenhandels auffinden, sie befreien, wenn sie an andere Orte entführt und in Sklaverei gezwungen werden; sie möchte ihnen nach ihrer Befreiung helfen. Oft verlieren Menschen, die in eine Falle geraten und misshandelt worden sind, die Fähigkeit überhaupt noch anderen Menschen zu trauen; die Kirche erweist sich dann oft als letzter Rettungsanker.”[9]

 

4) Was ist zu tun?

 

Ziel 8.7 der nachhaltigen Entwicklungsziele ist die Beendigung der Sklaverei: „Sofortige und wirksame Maßnahmen ergreifen, um Zwangsarbeit abzuschaffen, moderne Sklaverei und Menschenhandel zu beenden und das Verbot und die Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit, einschließlich der Einziehung und des Einsatzes von Kindersoldaten, sicherstellen und bis 2025 jeder Form von Kinderarbeit ein Ende setzen.” Dies ist eine weltweit gültige, internationale Selbstverpflichtung.

Wir sollten zur Bekämpfung dieses Problems einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen, bei dem wir jede Verantwortungsebene gezielt ansprechen:

„Sofortige und wirksame Maßnahmen ergreifen, um bis 2025 jeder Form von Kinderarbeit ein Ende setzen.“

(1) Erstens: Einige Länder verfolgen in der Staatengemeinschaft eine besonders strenge Politik im Bemühen, den Menschenhandel zu besiegen; diese Haltung ist in sich irreführend, weil sie wegen versteckter wirtschaftlicher Interessen nicht die eigentlichen Ursachen der Sklaverei anpackt. Darüber hinaus kann es zu einem Mangel an Abstimmung zwischen den Positionen der Staaten auf der Weltbühne und widersprüchlichen innenpolitischen Strategien kommen. Papst Franziskus formuliert es so: „Was hier geboten ist, ist ein gemeinsamer Sinn für Verantwortung und entschlossenerer politischer Wille, an dieser Front den Sieg zu erringen. Verantwortlichkeit gilt es gegenüber jenen zu zeigen, die dem Menschenhandel zum Opfer gefallen sind. Ziel dabei ist es, ihre Rechte zu schützen, ihre Sicherheit und die ihrer Familien zu gewährleisten.”[10]

(2) Zweitens: Die Umsetzung politischer Maßnahmen und die entschlossene Durchsetzung der Gesetze bei der Verhaftung der Täter und der Ausmerzung der Korruption sind eine Pflicht der Justiz, „um die Korrupten und die Kriminellen daran zu hindern, sich der Justiz zu entziehen und die Obergewalt über das Leben anderer auszuüben.“[11]

(3) Papst Franziskus erkennt die Hauptursache von Menschenhandel und Sklaverei: es ist „der skrupellose Egoismus der vielen Heuchler in unserer Welt.“ Beispiele von Nachfrage nach diesen Leistungen umfassen das Geschäft mit Sex in Person oder im Internet, Sklavenarbeit für Billigprodukte und Billigleistungen, Organhandel. Letztlich treibt die Nachfrage oder die Konsumkette das Angebot an. Wir sind also alle aufgefordert, über die Grenzen der Heuchelei hinauszugehen und die Einsicht zu akzeptieren, dass wir Teil des Problems sind, statt dass wir wegsehen und unsere Unschuld nach außen manifestieren. Denn „die echte Lösung liegt in der Umkehr der Herzen, bei der die Nachfrage unterbunden wird, um den Markt auszutrocknen.”[12]

Mit diesen drei Maßnahmen verantwortlichen Handelns wollen wir das Bewusstsein für dieses große Übel stärken, das überall auf der Welt lieber im Dunkeln versteckt bleiben möchte, weil es so skandalös und „politisch inkorrekt“ ist. Die Aufklärung darüber und überhaupt die Anerkennung dessen, dass es dieses Übel gibt, ist unser Ziel hier und heute, wobei wir dies als einen brauchbaren ersten Schritt sehen.

 

 

[1] Address to Participants in the Plenary Session of the Pontifical Academy of Social Sciences, 18 April 2015.

[2] Message for the 48th World Day of Peace 2015, “No longer slaves, but brothers and sisters”, § 4.

[3] Message for the 48th World Day of Peace 2015, “No longer slaves, but brothers and sisters”, § 6.

[4] Greeting to the Second European Assembly of RENATE, 7 November 2016.

[5] Evangelii Gaudium § 211.

[6] Dialogue with Participants in the World Day of Prayer, Reflection and Action against Human Trafficking, 12 February 2018.

[7] Ibid.

[8] Ansprache an die am Heiligen Stuhl akkreditierten neuen Botschafter aus Anlass der Überreichung der Akkreditierungsschreiben, 12. December 2013

[9] Dialogue with Participants in the World Day of Prayer, Reflection and Action against Human Trafficking, 12 February 2018.

[10] Ansprache an die am Heiligen Stuhl akkreditierten neuen Botschafter aus Anlass der Überreichung der Akkreditierungsschreiben, 12. December 2013

[11] Ansprache an die am Heiligen Stuhl akkreditierten neuen Botschafter aus Anlass der Überreichung der Akkreditierungsschreiben, 12. December 2013

[12] ibid.

 

[1] Dialogue with Participants in the World Day of Prayer, Reflection and Action against Human Trafficking, 12 February 2018

Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.

03. Juli 2018, 14:47