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Papst in Kanada: Auch heute noch gibt es ideologische Kolonialisierung

In seiner Ansprache vor den Autoritäten Kanadas hat Papst Franziskus daran erinnert, dass das Übel der ideologischen Kolonialisierung, die die Kultur der Indigenen missachtet und immenses Leid über viele Generationen gebracht hat, auch heute noch in den Gesellschaften schwelt. Vielmehr gelte es, sich ein Beispiel an den wertvollen Lehren der indigenen Lebensweise zu nehmen, so das Kirchenoberhaupt an diesem Mittwochnachmittag Ortszeit in Québec.

In seiner langen und dichten Ansprache vor den Autoritäten Kanadas schlug der Papst einen großen Bogen, verband das Leid der Indigenen des Landes mit den großen Herausforderungen unserer Zeit, stellte das Schielen auf Einzelinteressen, Krieg und die Wegwerfkultur einem Lebensentwurf entgegen, der Rücksicht auf das Gemeinsame Haus nimmt und das harmonische Zusammenspiel der Generationen im Blick hat.

Zum Nachhören - was der Papst sagte

Es fehlte auch in dieser Ansprache nicht der Verweis auf die Schuld, die katholische Institutionen in unheiliger Allianz mit staatlichen Anforderungen beim Betrieb der so genannten Residential Schools, in denen Generationen indigener Kinder ihrer Würde und Kultur beraubt wurden, auf sich geladen hatten. Franziskus bekannte sich jedoch auch im Namen der Orts- und Universalkirche klar zu der Aufgabe, „die indigenen Kulturen zu fördern, mit spezifischen, geeigneten spirituellen Wegen, einschließlich der Beachtung ihrer kulturellen Traditionen, Bräuche, Sprachen und Bildungsprozesse“, und dies „im Sinne der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker.“ Er nannte in diesem Zusammenhang ebenso die Verpflichtung des kanadischen Staates, auf die Appelle der Wahrheits- und Versöhnungskommision „angemessen zu reagieren“ und würdigte die Anstrengungen der Regierung, dafür zu sorgen, dass die Rechte der indigenen Völker anerkannt werden.

Die Begegnung im "Ballroom" der Zitadelle von Québec
Die Begegnung im "Ballroom" der Zitadelle von Québec

Indigene Kultur als Heilmittel gegen Kultur der Beschleunigung

In seiner Ansprache vor der Generalgouverneurin Mary May Simon, Premierminister Justin Trudeau und den Vertretern der Zivilgesellschaft und der Indigenen sowie dem Diplomatischen Korps ging der Papst von einem wichtigen Symbol Kanadas aus, dem Ahornblatt, das bis heute auf der Landesflagge prangt und auch den roten Faden der Überlegungen des Papstes darstellte. Bereits die Urvölker hätten aus den Ahornbäumen den Saft gezogen, aus dem sie nahrhaften Sirup herstellten – gleichzeitig ein Sinnbild der Lebensweise der Indigenen, die „stets darauf bedacht“ waren, „die Erde und die Umwelt zu schützen“, betonte Franziskus: „Daraus lässt sich viel lernen, aus der Fähigkeit, auf Gott, die Menschen und die Natur zu hören“, illustrierte der Papst vor seinen Zuhörern den Gegensatz zu einer Welt, die „durch eine ständige ,Beschleunigung‘ gekennzeichnet ist, die eine wirklich menschliche, nachhaltige und ganzheitliche Entwicklung“ erschwere.

„Wie sehr brauchen wir das gegenseitige Zuhören und den Dialog, um von dem vorherrschenden Individualismus, den vorschnellen Urteilen, der um sich greifenden Aggressivität und der Versuchung, die Welt in Gut und Böse einzuteilen, wegzukommen“

„Wie sehr brauchen wir das gegenseitige Zuhören und den Dialog, um von dem vorherrschenden Individualismus, den vorschnellen Urteilen, der um sich greifenden Aggressivität und der Versuchung, die Welt in Gut und Böse einzuteilen, wegzukommen“, so das Kirchenoberhaupt. Vielmehr gelte es, „die schädlichen Gewohnheiten der Ausbeutung zu beseitigen, welche nicht nur die Schöpfung, sondern auch die Beziehungen und die Zeit ausbeuten und die menschlichen Aktivitäten ausschließlich auf der Grundlage von Nutzen und Profit regulieren“, wiederholte er auch auf kanadischem Boden einen Grundsatz, der ihm seit jeher am Herzen liegt.

Dunkles Kapitel einer Entrechtungspolitik

Doch diese „lebenswichtigen Lehren“ seien in der Vergangenheit „heftig bekämpft“ worden, betonte Franziskus mit Blick auf das System einer „Assimilations- und Entrechtungspolitik“, das auch die Residential Schools hervorgebracht hatte. Für die Beteiligung katholischer Vertreter an diesem System bat er erneut um Vergebung: „Es ist tragisch, wenn sich gläubige Menschen, so wie in jener historischen Epoche geschehen, sich den Regeln der Welt anstatt an das Evangelium angleichen. Wenn einerseits der christliche Glaube eine wesentliche Rolle bei der Gestaltung der hohen Ideale Kanadas gespielt hat, die von dem Wunsch geprägt sind, ein besseres Land für alle seine Bewohner zu schaffen, dann ist es andererseits notwendig, die eigene Schuld einzugestehen und sich gemeinsam für das einzusetzen, was sie, wie ich weiß, alle teilen“, wandte sich Franziskus an die Anwesenden.

Die Momente, die er mit den Indigenen bei deren Besuch in Rom erlebt habe, hätten ihn selbst geprägt und in ihm den „festen Wunsch geweckt, meiner Empörung und Beschämung über das von den Ureinwohnern erduldete Leid zu folgen und auf einem geschwisterlichen und geduldigen Weg fortzuschreiten, der mit allen Kanadiern im Sinne von Wahrheit und Gerechtigkeit beschritten werden muss, um Heilung und Versöhnung zu erreichen, immer beseelt von der Hoffnung“.

Ideologische Kolonialisierung als Spiegel der Wegwerfgesellschaft

Doch auch heute mangele es nicht an Fällen ideologischer Kolonialisierung, warnte Franziskus. Es handele sich dabei um eine Mentalität, „die in der Annahme, ,die dunklen Seiten der Geschichte‘ überwunden zu haben, jener cancel culture Platz macht, die die Vergangenheit nur nach bestimmten aktuellen Kategorien bewertet.“ Auf diese Weise würde eine „kulturelle Mode“ implantiert, die „standardisiert, alles gleichmacht, keine Unterschiede duldet und sich nur auf den gegenwärtigen Moment, auf die Bedürfnisse und Rechte des Einzelnen konzentriert und dabei oft die Pflichten gegenüber den Schwächsten und Zerbrechlichsten vernachlässigt: den Armen, den Migranten, den alten Menschen, den Kranken, den Ungeborenen … Sie sind es, die in den Wohlstandsgesellschafen vergessen werden; sie sind es, die in der allgemeinen Gleichgültigkeit weggeworfen werden wie trockene Blätter, die man verbrennt.“

Probleme der Familien

Doch stattdessen erinnere das „reiche, bunte Laubkleid der Ahornbäume“ daran, wie wichtig „das Miteinander“ und die Bildung offener und integrativer menschlicher Gemeinschaften seien, nahm Franziskus den roten Faden seiner Ansprache wieder auf. Dieser Gedanke führte ihn zu den Familien, die „Kernzelle der Gesellschaft“, die einerseits die „erste konkrete soziale Realität“ darstelle, jedoch „durch viele Faktoren bedroht“ sei. Das Kirchenoberhaupt zählte unter den Bedrohungen nicht nur „häusliche Gewalt“ oder „Arbeitslosigkeit“ auf, sondern auch „Arbeitswut, individualistische Mentalität, ungezügelter Karrieresuch“ und die Vernachlässigung der jungen wie alten Generationen auf: „Die indigenen Völker haben uns so viel über die Pflege und den Schutz der Familie zu lehren, in der wir schon als Kinder lernen, zu erkennen, was richtig und was falsch ist, die Wahrheit zu sagen, zu teilen, Unrecht wiedergutzumachen, neu anzufangen und sich zu versöhnen. Möge das Übel, das die indigenen Völker erlitten haben, uns heute als Warnung dienen, damit die Sorge um die Familie und ihre Rechte nicht im Namen etwaiger Produktionsbedürfnisse und individueller Interessen vernachlässigt werden“, so der eindringliche Wunsch des Papstes.

Der Wahnsinn des Krieges

Das Ahornblatt sei in Kriegszeiten auch als „Verband und Wundauflage“ verwendet worden, schlug der Papst einen weiteren Bogen in seiner Ansprache: „Angesichts des sinnlosen Wahnsinns des Krieges müssen wir heute erneut den Extremismus der Gegenüberstellungen zügeln und die Wunden des Hasses heilen“, betonte er mit Blick auf ein neu aufkommendes Freund-Feindschema und eine Politik des Wettrüstens und der Abschreckungsstrategien, die keinesfalls Frieden und Sicherheit bringen könnten:  „Es stellt sich nicht die Frage, wie man Kriege fortsetzen kann, sondern wie man sie beenden kann. Und wie verhindert werden kann, dass die Völker erneut in Geiselhaft genommen werden durch Verwicklung in erschreckende, ausgeweitete kalte Kriege.“

Hier bestehe ein Bedarf an „kreativer, zukunftsorientierter Politik, die es versteht, über den Tellerrand der Parteien hinauszuschauen, um Antworten auf globale Herausforderungen zu finden“, mahnte Franziskus vor den Autoritäten Kanadas. Denn die „großen Herausforderungen unserer Zeit“, wie „Frieden, Klimawandel, Pandemien und internationale Migration“, seien „durch eine Konstante vereint“: „Sie sind global und betreffen jeden. Und wenn alle von der Notwendigkeit des Miteinanders sprechen, darf die Politik nicht ein Gefangener von Einzelinteressen bleiben.“

An zukunftige Generationen denken

Es gelte, den Blick auf die „sieben zukünftigen Generationen zu richten“, so der Papst unter Bezug auf indigene Lehren, die nicht auf das Streben nach unmittelbaren Vorteilen, Wahlterminen oder der „Unterstützung von Lobbys“ ausgerichtet seien. Es sei nicht nur notwendig, die älteren Menschen als Bewahrer der Erinnerung und der Weisheit zu hören, sondern auch die jungen Generationen in den Blick zu nehmen, die „eine bessere Zukunft als die, die wir für sie vorbereiten“, verdienten. Deshalb müssten junge Menschen an den „Entscheidungen für heute und morgen“ beteiligt werden, insbesondere an denjenigen, die die Erhaltung des gemeinsamen Hauses beträfen, so der Papst, der in diesem Zusammenhang das „lobenswerte örtliche Engagement“ Kanadas für die Umwelt würdigte.

Herausforderung der Multikulturalität

Die Multikulturalität, die er auch im Symbol des Ahornblatts mit seiner „Vielzahl von Spitzen und Seiten“ verortete, stelle „eine ständige Herausforderung“ dar, so der Papst mit Blick auf die heutige Gesellschaft. Dabei gehe es darum, „die verschiedenen vorhandenen Komponenten willkommen zu heißen und einzubeziehen und dabei die Vielfalt ihrer Traditionen und Kulturen zu respektieren, ohne zu glauben, dass der Prozess ein für alle Mal abgeschlossen ist“. In diesem Zusammenhang würdigte er die  „großzügige Aufnahme zahlreicher ukrainischer und afghanischer Migranten“, mahnte aber auch dazu, dass die „Rhetorik der Angst gegenüber Migranten“ zu überwinden sei und ihnen „im Rahmen der Möglichkeiten des Landes eine echte Chance“ gegeben werden müsse, sich „verantwortungsvoll in die Gesellschaft einzubringen“. Auch hierbei könne die indigene Kultur hilfreich sein, „indem sie uns an die Bedeutung der Werte der Sozialität erinnert“.

Der Beitrag der Kirche

In diesem Sinne biete auch die katholische Kirche „gerne ihren Beitrag“ an, so der Papst mit Blick auf das Engagement der Kirche „mit ihrer universalen Dimension und ihrer Fürsorge für die Schwächsten“, ebenso wie mit ihrem Einsatz für den Schutz des menschlichen Lebens „in jeder Phase“: „In diesen Tagen habe ich von zahlreichen Bedürftigen gehört, die an die Türen der Kirchengemeinden klopfen“, gab der Papst zu bedenken. Denn selbst in „einem so entwickelten und fortschrittlichen Land wie Kanada“ gebe es nicht wenige Menschen, die obdachlos oder auf Kirchen und Tafeln angewiesen seien, „um die notwendige Hilfe und die grundlegende Unterstützung zu erhalten, die - das sollten wir nicht vergessen - nicht nur materiell ist“:

„Diese Brüder und Schwestern führen uns vor Augen, wie dringlich es ist, sich für die Beseitigung der radikalen Ungerechtigkeit einzusetzen, die unsere Welt verseucht und durch die die Fülle der Gaben der Schöpfung viel zu ungleich verteilt ist.“ Es sei „ein Skandal“, dass der „durch die wirtschaftliche Entwicklung geschaffene Wohlstand nicht allen Teilen der Gesellschaft“ zugutekomme, doch es sei auch traurig, dass vor allem unter den Indigenen hohe Armutsquoten zu finden seien, gab der Papst zu bedenken. Diese gehe oft mit anderen „negativen Indikatoren“ einher, wie eine geringere Schulbildung sowie ein erschwerter Zugang zu Wohnraum und Gesundheitsversorgung. Mit dieser Beobachtung verband der Papst seinen Wunsch, dass die Verantwortlichen „wirtschaftliche und soziale Entscheidungen“ treffen mögen, die allen zugutekämen und die Bedürftigen im Blick behielten:

„Die drängenden Herausforderungen der heutigen Zeit können nur gemeinsam bewältigt werden“

„Die drängenden Herausforderungen der heutigen Zeit können nur gemeinsam bewältigt werden. Ich danke ihnen für ihre Gastfreundschaft, ihre Aufmerksamkeit und ihre Wertschätzung und sage ihnen mit aufrichtiger Zuneigung, dass mir Kanada und sein Volk wirklich am Herzen liegen“, schloss der Papst seine Ansprache vor den politischen Autoritäten, den Vertretern der Zivilgesellschaft sowie den Indigenen und dem Diplomatischen Korps.

Verspäteter Beginn

Vor den offiziellen Ansprachen, die wegen der verspäteten Anreise eines Indigenenvertreters mit über einer Stunde Verzögerung begann, wurde der Kinder gedacht, die aus den Residential Schools nicht mehr nach Hause gekommen sind. Eine Inuit entzündete in einem traditionellen Ritual eine Lampe, damit Licht und Wärme in den Raum einziehen könne. Ein weiterer Indigener, der mit seinem Rollator vor den im Rollstuhl sitzenden Papst trat, überreichte dem Kirchenoberhaupt vier Federn, die nach indigener Tradition nicht nur die vier Himmelrichtungen abbilden, sondern auch für ein indigenes Reinigungsritual für die Seele stehen.

In seiner Ansprache erinnerte Premierminister Justin Trudeau, in Ahnlehnung an sein Pressestatement nach der Begegnung in Maskwacis, an die schweren Fehler der Vergangenheit, die zu einer kulturellen Auslöschung und groben Misshandlungen Indigener geführt hatten, würdigte aber auch den Einsatz des Papstes - in Rom wie auch in Kanada -  für den weiteren Weg der Versöhnung und Heilung.

Generalgouverneurin Mary Simon, selbst eine Inuit, würdigte in ihrer Ansprache insbesondere den Einsatz der Indigenen für die Wahrheitsfindung und die Aufarbeitung und dankte dem Papst dafür, dass er mit seiner Anwesenheit in Kanada einen weiteren Schritt auf dem Weg der Versöhnung gegangen sei. Sich an die Geschichten der Insassen der Internate zu erinnern, sei Pflicht aller, so die Gouverneurin, die streckenweise auch in der Sprache der Inuit sprach. „Heilung“, so die Generalgouverneurin mit Blick auf einen Ausdruck in der Sprache Inuktitut, sei „eine Reise, kein Ziel“. Simon dankte in diesem Zusammenhang allen Kanadiern dafür, den Aufruf zur Versöhnung gehört zu haben und ihm nachgekommen zu sein. Der Auszug der Delegationen wurde mit traditioneller Fiedelmusik untermalt.

(vatican news - cs)

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28. Juli 2022, 00:56