Lesbos: Papst Franziskus am „Ground Zero“ der Flüchtlingskrise

Papst Franziskus hat auf der griechischen Insel Lesbos mit Nachdruck mehr Anstrengungen zugunsten von Flüchtlingen und Migranten in Europa angemahnt. Im Aufnahmelager von Mytilene warnte er, nur etwa zwanzig Kilometer Luftlinie von der türkischen Küste entfernt, vor dem Bau neuer Mauern in Europa – und vor einem „Schiffbruch der Zivilisation“.

Stefan von Kempis – Vatikanstadt

Es war schon der zweite Besuch des Papstes bei Migranten auf Lesbos, das die „Washington Post“ den „Ground Zero der ungelösten Flüchtlingskrise Europas“ nennt. Im April 2016 hatte Franziskus, ein Nachfahre italienischer Einwanderer nach Argentinien, das Lager Mória besucht, das im September letzten Jahres abgebrannt ist.

In der Nachfolge-Struktur auf Lesbos leben derzeit ungefähr 2.200 Migranten – ein Bruchteil der Zahl, die in Mória untergebracht gewesen war. Die Regierung hat viele Migranten auf das griechische Festland gebracht.

Selfies, Container, ein Flüchtlingschor

Franziskus durchquerte ein Gelände von weißen Containerbauten und begrüßte Migranten, die hinter Absperrgittern auf ihn gewartet hatten. Er drückte viele Hände, tätschelte Kleinkinder und ließ Selfies mit sich machen. Es waren die bewegendsten Momente dieser Reise in die Ägäis. Allerdings war ein richtiggehendes „Bad in der Menge“ wegen der Corona-Pandemie diesmal nicht möglich.

„Lobet den Herrn, denn er ist gut“, sang ein Chor afrikanischer Flüchtlinge auf Französisch, als eine kleine Zeremonie mit dem Papst in einem Zelt begann, dessen offene Rückwand den Blick aufs Meer freiließ. Vor fünf Jahren hatte der Papst eine Reihe von Flüchtlingen (syrische Muslime) von Lesbos mit nach Rom genommen; sie leben jetzt in Italien, um sie kümmert sich die katholische Gemeinschaft Sant'Egidio.

„Wer Angst vor euch hat, hat euch nicht in die Augen geschaut“

Zusammen mit Franziskus hatte 2016 der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Bartholomaios I., Mória betreten; seine Worte von damals zitierte Franziskus jetzt, weil sie ihn „sehr beeindruckt“ hatten: „Wer Angst vor euch hat, hat euch nicht in die Augen geschaut. Wer Angst vor euch hat, hat eure Gesichter nicht gesehen.“

„Abkapselungen und Nationalismen haben katastrophale Folgen“

„Migration ist ein Weltproblem, eine humanitäre Krise, die alle angeht“, betonte Franziskus und beklagte den „schrecklichen Stillstand“ in diesem „Bereich“ (von „Krise“ will er in diesem Zusammenhang nicht sprechen). „Dabei stehen doch Menschen und Menschenleben auf dem Spiel! Auf dem Spiel steht die Zukunft aller, die nur dann harmonisch sein kann, wenn sie auf Integration beruht. Nur eine mit den Schwächsten versöhnte Zukunft wird ertragreich sein. Wenn nämlich die Armen zurückgewiesen werden, wird der Frieden zurückgewiesen. Die Geschichte lehrt, dass Abkapselungen und Nationalismen katastrophale Folgen haben.“

„Bitternis“

Die „ständige Abwälzung von Verantwortung“ müsse aufhören, das schrieb der Papst der europäischen Politik ins Stammbuch. „Die Migrationsfrage darf nicht immer an andere delegiert werden, so als beträfe es niemanden und als sei sie nur eine nutzlose Last, die jemand zu übernehmen gezwungen ist!“ Er stelle „mit Bitternis“ fest, dass sich seit seinem letzten Lesbos-Besuch vor fünf Jahren in der Flüchtlingsfrage nicht viel bewegt habe. Immer noch gebe es in Europa „Leute, die so tun, als ginge sie dieses Problem nichts an“.

Zum Nachhören: Papst Franziskus besucht Flüchtlinge und Migranten auf Lesbos - ein Bericht von Radio Vatikan

Mit einem Elie-Wiesel-Zitat ließ Franziskus durchblicken, dass es aus seiner Sicht durchaus Parallelen zwischen der Judenverfolgung der Nazizeit und dem Umgang mit Migranten heutzutage gibt. In diese Richtung hatte schon ein emotionaler Vergleich von KZs mit Flüchtlingslagern gewiesen, den er auf der ersten Etappe seiner Reise, der Insel Zypern, angestellt hatte.


„Lasst uns die todbringende Gleichgültigkeit überwinden“

„An diesem Sonntag bitte ich Gott, uns aus unserer Vergesslichkeit gegenüber den Leidenden zu erwecken; uns aufzurütteln aus dem Individualismus, der ausgrenzt; die Herzen, die gegenüber den Bedürfnissen des Nächsten taub sind, aufzuwecken. Und ich bitte auch den Menschen, jeden Menschen: Lasst uns die lähmende Angst überwinden, die todbringende Gleichgültigkeit, das zynische Desinteresse, das in Samthandschuhen die am Rand Stehenden zum Tode verurteilt!“

Gerade in Europa – dem Kontinent, der Menschenrechte „weltweit propagiert“ – sollten Migranten und Flüchtlinge nicht „unter grenzwertigen Umständen“ leben müssen, sagte Franziskus. „Es ist traurig, wenn als Lösung vorgeschlagen wird, mit gemeinsamen Ressourcen Mauern zu bauen.“ Zwar seien „Ängste und Unsicherheiten“ in der Flüchtlingsfrage „natürlich verständlich“. „Aber es ist nicht durch eine Verstärkung der Zäune, dass sich die Probleme lösen lassen und sich das Zusammenleben verbessern lässt.“ Staatsgrenzen müssten „irrelevant“ sein, wo Menschenleben in Gefahr seien; auf „komplexe Probleme“ gebe es „keine einfache Antwort“.

„Migranten werden für politische Propaganda missbraucht“

„Es ist leicht, die öffentliche Meinung mitzureißen, indem man ihr Angst vor den Anderen einflößt; warum spricht man nicht in demselben Ton von der Ausbeutung der Armen, von den vergessenen und oft großzügig finanzierten Kriegen, von den auf dem Rücken anderer Menschen abgeschlossenen wirtschaftlichen Pakten, von den heimlichen Manövern des Waffenhandels und der Proliferation von Waffen? Die zugrundeliegenden Ursachen müssen angegangen werden, nicht die armen Menschen, die die Folgen zu tragen haben und sogar für politische Propaganda missbraucht werden!“

Der Papst spielte auch auf das Foto des ertrunkenen kleinen Alan Kurdi an, das im September 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle, weltweit Betroffenheit ausgelöst hatte. „Wenn wir neu anfangen wollen, sollten wir vor allem in die Gesichter der Kinder schauen. Lasst uns den Mut finden, uns vor ihnen, die unschuldig sind und die Zukunft bedeuten, zu schämen… Lasst uns nicht eilig Reißaus nehmen vor den brutalen Bildern ihrer kleinen Körper, die regungslos am Strand liegen.“


„Konkrete christliche Wurzeln“

Das Mittelmeer dürfe nicht „zu einem kalten Friedhof“ werden – damit wiederholte Franziskus eine häufig von ihm vorgebrachte Formel. Sie hat kürzlich auch der französische Präsident Emmanuel Macron aufgegriffen, nachdem 27 Migranten im Ärmelkanal ertrunken waren.

„Der Glauben fordert Mitleid und Barmherzigkeit. Er ermahnt zur Gastfreundschaft, zu jener philoxenia, von der die antike Kultur durchdrungen war und die dann in Jesus ihren endgültigen Ausdruck fand, insbesondere im Gleichnis des Barmherzigen Samariters (vgl. Lk 10,29-37) und in den Worten des 25. Kapitels des Matthäusevangeliums (vgl. V. 31-46). Das ist keine religiöse Ideologie, sondern es sind konkrete christliche Wurzeln.“

Tragische Biographien

Auch ein Flüchtling aus dem Kongo hatte - außer der Staatspräsidentin, zwei Geistlichen und einem freiwilligen Helfer - die Gelegenheit, während der Visite von Papst Franziskus eine kleine Ansprache zu halten. Der 30-jährige Christian Tango Mukaya berichtete, dass eines seiner drei kleinen Kinder im Kongo zurückgeblieben sei, bei seiner Frau.

„Sie hatten keine Gelegenheit, zu mir nach Griechenland zu kommen, und ich habe bis heute nichts von ihnen gehört.“ Da blitzte für einen Moment die Tragik in den Biographien dieser auf Lesbos festsitzenden Menschen auf.

(vatican news)

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05. Dezember 2021, 11:13