Ein Meilenstein: Der Papst und der Ayatollah

Dass Franziskus an diesem Samstag in Nadschaf den schiitischen Großayatollah Ali Sistani zu einem Höflichkeitsbesuch getroffen hat, ist ein Meilenstein. Das sagt die Iranerin Shahrazad Houshmand im Interview mit Radio Vatikan.

„Sistani ist der wichtigste religiöse, theologische und juristische Bezugspunkt für Muslime im Irak, und nicht nur im Irak“, so Frau Houshmand, die Muslimin ist und dem Frauenrat des Päpstlichen Kulturrates angehört. „Auch Schiiten in Pakistan, Indien, vom Persischen Golf sowie in Europa und Amerika orientieren sich an Sistani. Das Treffen dieser beiden Religionsführer ist nicht nur eine absolute Premiere, sondern sie haben auch in ihrem Denken einiges gemeinsam.“

Damit meint Frau Houshmand nicht nur, dass Katholiken ohnehin mehr geistige Anknüpfungspunkte zur schiitischen Spielart des Islam als zur mehrheitlich-sunnitischen haben. Katholiken und Schiiten ähneln sich in ihrer Heiligen- und Märtyrerverehrung, auch in ihrer Passionsfrömmigkeit. Aber die iranische Muslimin sieht auch bei den beiden Männern des Glaubens, die sich an diesem Samstag in Nadschaf begegnet sind, wichtige Kongruenzen im Denken.

Shahrzad Houshmand
Shahrzad Houshmand

„Ayatollah Sistani hat großen Respekt vor Glaubenden anderer Religionen, und das haben wir auch beim Bischof von Rom gesehen. Ihnen geht es um die gesamte Menschheit und darum, dass jeder Mensch als solcher respektiert und geliebt werden sollte. Das außerordentliche Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen, das Papst Franziskus und der (sunnitische) Großimam al-Tayyeb im Februar 2019 in Abu Dhabi unterzeichnet haben, sagt es schon im ersten Satz, dass der Glaube uns dazu bringen soll, uns um unsere Nächsten zu kümmern. Das Treffen mit Ayatollah Sistani liegt genau auf dieser Wellenlänge.“

Anders als schiitische Führer im benachbarten Iran steht Sistani für einen „quietistischen“ Kurs: Er hat in den letzten Jahren in heiklen Momenten den Weg der irakischen Gesellschaft zur Demokratie unterstützt und die schiitische Mehrheitsbevölkerung des Irak zum Kampf gegen die Terrorbande „Islamischer Staat“ aufgerufen. Eine gemeinsame Erklärung mit dem Papst hat er an diesem Samstag nicht unterzeichnet – aber der 90-Jährige, der für seine Öffentlichkeitsscheu bekannt ist, hat allein dadurch, dass er einem Treffen mit Franziskus zustimmte, ein deutliches Zeichen gesetzt.

Franziskus bei Sistani
Franziskus bei Sistani

„Sistani ist ein ‚rabbani‘, ein ‚weiser Mann der Religion‘; er hat nicht nur Theologie, den Koran, die Tradition, das islamische Recht gründlich studiert, sondern ist vor allem ein spiritueller Führer, der die Iraker eint und zusammenbringt. Auf seiner Internetseite und in seinen Büchern lädt er alle dazu ein, einander Geschwister zu sein. Er drängt die Schiiten, nicht nur an ihr eigenes Wohl zu denken, sondern auch an das der Sunniten, das der Christen und so weiter. Sich selbst nennt er einen Knecht der Schiiten, der Sunniten, der Kurden und der Christen.“

Theologisch gebe es keinen Unterschied zwischen Schiiten im Irak oder im Nachbarland Iran, sagt Frau Houshmand. Die irakischen Städte Nadschaf und Kerbala seien auch für die Schiiten im Nachbarland Heilige Stätten. Politisch allerdings tickten die führenden Schiiten in den beiden Ländern unterschiedlich. Verantwortlich dafür sind vor allem Lehren, die der iranische Ayatollah Khomeini im Exil in Nadschaf entwickelte, bevor er nach dem Sturz des Schahs in den Iran zurückkehren konnte.

In Nadschaf ist Mohammeds Vetter (und Schwiegersohn) Ali begraben
In Nadschaf ist Mohammeds Vetter (und Schwiegersohn) Ali begraben

„Nach der (islamischen) Revolution von 1979 (im Iran) haben die ‚ulema‘ und die Ayatollahs (im Iran) vor allem auf Khomeinis Anstoß eine in ihrer Art neue These ausgearbeitet, die Politik und Religion in eins setzt. Die politische und soziale Führung sollte also unter der direkten Kontrolle der religiösen Sphäre stattfinden. Im Irak ist diese Theorie nicht angekommen, hier wird zwischen religiöser und politischer Sphäre unterschieden. Dennoch kommt dem Ayatollah Sistani auch eine wichtige politische Rolle zu. Obwohl er keine politische Macht hat, nimmt sein geistliches Denken doch starken Einfluss auf die Politik, vor allem, was die nationale Einheit betrifft.“

(vatican news – sk)

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06. März 2021, 15:26