Im Wortlaut: Papst Franziskus bei der Generalaudienz

Wir dokumentieren hier in einer Arbeitsübersetzung von Radio Vatikan die Katechese, die Papst Franziskus am Mittwoch, den 19. August, bei der Generalaudienz gehalten hat.

Die offizielle Fassung mit den spontanen Einfügungen des Heiligen Vaters finden Sie in Kürze auf der Website des Vatikans.

 

Liebe Brüder und Schwestern,

die Pandemie hat die schwierige Lage der Armen und die große Ungleichheit auf der Welt aufgezeigt. Und wenn das Virus zwischen den Menschen auch keine Ausnahmen macht, so ist ihm auf seinem Zerstörungsweg doch viel Ungleichheit und Diskriminierung begegnet. Und es hat sie noch vermehrt!

Die Antwort auf die Pandemie muss daher doppelter Art sein. Einerseits gilt es, ein Heilmittel für ein kleines, aber schreckliches Virus zu finden, das die ganze Welt in die Knie zwingt. Und dann müssen wir noch ein anderes großes Virus heilen: das der sozialen Ungerechtigkeit, der Chancen-Ungleichheit, der Marginalisierung und des mangelnden Schutzes der Schwächsten. Eines darf laut dem Evangelium bei dieser doppelten Antwort, die Heilung bringen soll, nicht fehlen: die Vorzugsoption für die Armen (vgl. Apost. Schreiben Evangelii gaudium [EG], 195). Und es ist keine politische Option - und auch keine ideologische, parteiliche Option … Nein. Die Vorzugsoption für die Armen ist die Mitte des Evangeliums. Und der erste, der sie in die Tat umsetzte, war Jesus; das haben wir am Anfang in der Lesung aus dem Brief an die Korinther gehört. Er, der reich war, ist arm geworden, um uns zu bereichern. Er ist einer von uns geworden, und daher steht diese Option im Zentrum des Evangeliums, im Zentrum der Verkündigung Jesu. 

Christus, der Gott ist, hat sich selbst entäußert, indem er sich den Menschen ähnlich machte; er hat kein privilegiertes Leben gewählt, sondern sich zum Knecht gemacht (vgl. Phil 2,6-7). Er wurde in eine einfache Familie hineingeboren, hat sich als Handwerker verdingt. Als er zu predigen begann, verkündete er, dass im Reich Gottes die Armen selig sind (vgl. Mt 5,3; Lk 6,20; EG, 197). Er hat sich den Kranken, Armen und Ausgegrenzten zugewendet, ihnen die barmherzige Liebe Gottes gezeigt (vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2444). Und wie oft hat man ihm vorgeworfen, unrein zu sein, weil er zu den Kranken, zu den Aussätzigen ging... Denn das war es, was nach der damaligen Mentalität, dem damaligen Gesetz, unrein gemacht hat. Aber er hat es riskiert, um den Armen nahe sein zu können. 

Und das ist auch der Grund, warum die Jünger Jesu einander an ihrer Nähe zu den Armen und Kleinen erkennen, den Kranken und Gefangenen, den Ausgeschlossenen und Vergessenen, den Menschen, denen es an Nahrung und Kleidung fehlt (vgl. Mt 25,31-36; KKK, 2443). Wir können es in dem berühmten Protokoll nachlesen, nachdem wir dereinst gerichtet werden, alle: Matthäus, Kapitel 25. Das ist ein entscheidendes Kriterium christlicher Authentizität (vgl. Gal 2,10; EG, 195). Manche glauben irrtümlicherweise, dass diese besondere Liebe zu den Armen die Aufgabe einiger weniger ist, in Wahrheit aber ist sie die Sendung der ganzen Kirche, hat Johannes Paul II. gesagt (vgl. Enz. Sollicitudo rei socialis, 42). „Jeder Christ und jede Gemeinschaft ist berufen, Werkzeug Gottes für die Befreiung und die Förderung der Armen zu sein“ (EG, 187).

Der Glaube, die Hoffnung und die Liebe drängen uns zu dieser vorrangigen Option für die Notleidenden (vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über einige Aspekte der „Theologie der Befreiung“, 1984, Nr. 5), die über die – wenngleich notwendige – konkrete Unterstützung hinausgeht (vgl. EG, 198). Es geht darum, unseren Weg gemeinsam mit den Bedürftigen zu gehen; uns von diesen Menschen, die mit dem leidenden Christus nur allzu vertraut sind, evangelisieren zu lassen; uns von ihrer Erfahrung des Heils, ihrer Weisheit und Kreativität „anstecken“ zu lassen (vgl. ebd.). Mit den Armen zu teilen bedeutet, einander gegenseitig zu bereichern. Und wenn es kranke soziale Strukturen gibt, die sie daran hindern, von der Zukunft zu träumen, müssen wir zusammenarbeiten, um diese Strukturen zu heilen und zu verändern (vgl. ebd., 195). Dazu treibt uns die Liebe Christi, der uns bis zum Äußersten geliebt hat (vgl. Joh 13,1): eine Liebe, die bis an die Grenzen, die existentiellen Randgebiete reicht. Die Peripherie ins Zentrum zu stellen, bedeutet, unser Leben auf Christus auszurichten, der für uns „arm geworden“ ist, um uns „durch seine Armut reich zu machen“ (2Kor 8,9) (Benedikt XVI., Eröffnung der Arbeiten der V. Generalkonferenz der Bischofskonferenzen von Lateinamerika und der Karibik, 13. Mai 2007) .

Die sozialen Folgen der Pandemie machen uns allen Sorgen. Viele wollen zur Normalität zurückkehren und die Wirtschaftstätigkeit wieder aufnehmen. Das ist nur allzu verständlich: soziale Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung sollten aber nicht Teil dieser „Normalität“ sein. Die Pandemie ist eine Krise, und aus einer Krise geht man verändert hervor: sie macht uns entweder besser oder schlechter. Wir müssen als bessere Menschen aus der Krise hervorgehen, damit wir der sozialen Ungerechtigkeit und der Zerstörung der Umwelt Einhalt gebieten können. Wir haben heute die Gelegenheit, etwas Neues aufzubauen. Wir können beispielsweise eine Wirtschaft schaffen, die eine echte ganzheitliche Entwicklung der Armen fördert und mehr ist als ein bloßes Sozialhilfesystem. Das soll aber keine Kritik am Sozialhilfesystem sein; soziale Werke sind wichtig. Denken wir nur an das Volonatariat, eine der besten Strukturen in Italien. Sozialhilfe ist wichtig, aber wir müssen darüber hinausgehen, nämlich die Probleme lösen, die Sozialhilfe erst notwendig machen. Eine Wirtschaft, die nicht auf „Heilmittel“ zurückgreift, die die Gesellschaft in Wahrheit vergiften, wie z.B. Erträge, die nicht mit der Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze einhergehen (vgl. EG, 204). Diese Art des Profits hat nichts mit der Realwirtschaft zu tun, die den einfachen Leuten zugute kommen sollte (vgl. Enz. Laudato si' [LS], 109), und ist auch oft gleichgültig gegenüber dem Schaden, der unserem gemeinsamen Haus zugefügt wird.

Die vorrangige Option für die Armen, dieses ethisch-soziale Bedürfnis, das der Liebe Gottes entspringt (vgl. LS, 158), lässt uns eine Wirtschaft schaffen, die den Menschen – und besonders die Ärmsten – in den Mittelpunkt stellt. Und sie ermutigt uns auch, bei der Behandlung von Virusinfektionen jenen Priorität einzuräumen, die diese Behandlung am dringendsten brauchen. Wie traurig wäre es, wenn der Impfstoff gegen Covid-19 vorrangig den Reichsten zugute käme!  Wie traurig wäre es, wenn dieser Impfstoff nur einer bestimmten Nation zugute käme und nicht allen. Und was für ein Skandal wäre es, wenn man die großzügig flüssig gemachten Wirtschaftshilfen – die meisten davon aus öffentlichen Geldern – für die Rettung von Industrien verwenden würde, die nicht dazu beitragen, die Ausgegrenzten einzugliedern, die Letzten und das Gemeinwohl zu fördern oder die Schöpfung zu bewahren (ebd.). Die Kriterien, die für die Auswahl der zu rettenden Industriezweige ausschlaggebend sein müssen, sind folgende: die Eingliederung der Ausgegrenzten, die Förderung der Bedürftigen und des Gemeinwohls und die Bewahrung der Schöpfung. Vier Kriterien.

Wenn das Virus in einer Welt, die den Armen und den Schwächsten gegenüber ungerecht ist, wieder stärker werden sollte, müssen wir diese Welt verändern. Dem Beispiel Jesu folgend, Arzt der ganzheitlichen göttlichen Liebe, also der physischen, sozialen und spirituellen Heilung (vgl. Joh 5,6-9) –  denn genau so hat Jesus geheilt – , müssen wir jetzt handeln, um nicht nur die Epidemien zu heilen, die durch kleine, unsichtbare Viren verursacht werden, sondern auch jene, deren Wurzel die großen, sichtbaren sozialen Ungerechtigkeiten sind. Ich schlage vor, dass wir dies tun, indem wir von der Liebe Gottes ausgehen: indem wir also die Randgebiete in den Mittelpunkt, und die Letzten an die erste Stelle stellen. Vergessen wir nicht das Protokoll, nach dem wir dereinst gerichtet werden, Matthäus, Kapitel 25. Setzen wir es jetzt, in dieser Zeit, in der wir die Krise hinter uns lassen, in die Tat um. Und ausgehend von dieser konkreten Liebe, die – wie uns das Evangelium sagt  -, in der Hoffnung verankert und im Glauben begründet ist, wird eine heilere Welt möglich sein. Sonst werden wir schlechter aus der Krise hervorgehen. Der Herr helfe uns, er schenke uns die Kraft, als bessere Menschen aus der Krise hervorzugehen und den Bedürfnissen der Welt von heute Rechnung zu tragen. Danke.

(vaticannews - übersetzung: silvia kritzenberger)



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19. August 2020, 10:48