Franziskus empfing Vertreter der Jesuitenzeitschrift am Freitagmorgen Franziskus empfing Vertreter der Jesuitenzeitschrift am Freitagmorgen 

Papst Franziskus warnt vor Populismus in Europa

Papst Franziskus hat vor einer Verzerrung der Wirklichkeit durch populistische Strömungen in Europa gewarnt. Viele Länder schlössen sich in sich ab, es drohten „alte Ideologien“ zurückzukehren, die in der Vergangenheit zu Krieg führten, warnte der Papst am Freitag in einer frei gehaltenen Ansprache vor Vertretern einer italienischen Jesuitenzeitschrift im Vatikan.

Anne Preckel – Vatikanstadt

Der Papst empfing die Redaktion der italienischen Jesuitenzeitschrift „Aggiornamenti Sociali“ („Soziale Erneuerung“) in Audienz. Er legte dabei seinen vorbereiteten Redetext beiseite und wandte sich in freier Rede an die Vertreter des Magazins, das seit fast 70 Jahren gesellschaftliche Entwicklungen und Phänomene analysiert und sich an politischen und ethischen Bildungsprojekten beteiligt. 

Zum Nachhören

Sich von der Wirklichkeit treffen lassen

Franziskus Gedanken kreisten in seiner Ansprache um das Begreifen der Wirklichkeit aus dem Glauben heraus und die Abwehr von Ideologien. Im Detail ging er dabei auf zwei Begriffe ein: Zuhören und Dialog.

„Man kann niemals eine Orientierung, einen Weg, einen Vorschlag machen ohne das Zuhören. Es ist das Grundverhalten jedes Menschen, der etwas für andere tun will: die Situationen anhören, die Probleme, offen, ohne Vorurteile. Nicht nach dem Motto ,Ja, ja, ich hab schon verstanden‘, das ist Reduktion und geht nicht. Zuhören bedeutet hingegen, sich von der Wirklichkeit treffen zu lassen. Und da fallen manchmal die eigenen Kategorien zusammen oder sie ordnen sich neu. Zuhören ist der erste Schritt, doch man muss das mit Geist und offenem Herzen tun, ohne Vorurteile.“

Der Papst ging dann auf das Entstehen von Ideologien ein, „neuer Ideologien“ und „alter, die wiederkommen“. In Europa sei heute zum Beispiel „das Vorurteil der Populismen“ zu beobachten: „Länder schließen sich ab und Ideologien kommen zurück. Es sind nicht allein neue Ideologien zu beobachten, sondern auch die alten, die zurückkehren, jene, die den zweiten Weltkrieg auslösten.“

„Die Wirklichkeit ist erhaben, ob sie uns gefällt oder nicht. Ich muss mit ihr Dialog führen.“

An der Wurzel aller Ideologie stehe ein Verkennen, ein Leugnen der Wirklichkeit, führte der Papst aus:

„Weil man der Wirklichkeit nicht so zuhört, wie sie ist. Es gibt eine Projektion von dem, was ich will, das getan wird und das gedacht werden soll. Das ist ein Komplex, der uns den Schöpfergott ersetzen lassen will. Wir nehmen die Situation in die Hand und handeln nach dem Motto: die Wirklichkeit ist das, was ich will. Wir legen uns Filter an. Die Wirklichkeit ist aber etwas anderes: Sie ist erhaben. Ob sie uns gefällt oder nicht, sie ist erhaben. Und ich muss mit der Wirklichkeit Dialog führen.“

Keine vorgefertigten Konzepte

Bei diesem Dialog gehe es nicht darum, „Straßen der Entwicklung oder Lösungen für Probleme aufzuzwingen“. Es gehe vielmehr darum, aus dem Glauben heraus nach Lösungen zu suchen und dabei Unterscheidungsvermögen an den Tag zu legen.

„Und hier kommen wir zum Kern der Sache. Denn was ist die Antwort eines Christen? Dialog mit der Wirklichkeit führen und dabei von den Werten des Evangeliums auszugehen, den Dingen, die Jesus uns gelehrt hat, ohne sie dogmatisch aufzuzwingen, sondern mit Dialog und Unterscheidung. Ein Jesuit in Thailand, der mit Flüchtlingen arbeitet, fragte mich bei meiner letzten Reise: ,Was ist heute der Weg für unsere Arbeit mit den Flüchtlingen?‘ Die Antwort ist: Es gibt keinen Weg, es gibt kleine Pfade, die jeder von uns suchen muss, indem er die Wirklichkeit ansieht, betet und unterscheidet. Wirklichkeit, Gebet und Unterscheidung. Und so geht man voran im Leben, auch bei den sozialen und kulturellen Problemen…  Wenn ihr hingegen von vorgefertigten Konzepten oder Positionen, von vorab getroffenen dogmatischen Entscheidungen ausgeht, werdet ihr niemals, niemals eine Botschaft geben können. Die Botschaft muss vom Herrn kommen, durch uns. Wir sind Christen und der Herr spricht zu uns mit der Wirklichkeit, dem Gebet und der Unterscheidung.“

...auch nicht in der Evangelisierung

Dieser Ansatz gelte auch für die Evangelisierung, betonte der Papst weiter: „Es gibt heute keine Autobahn für die Evangelisierung, nur demütige Pfade, demütig, die uns weiterführen.“

An seine Gäste gewandt lobte Franziskus den Freimut der Redakteure des italienischen Jesuiten-Magazins. Dieses nehme kein Blatt vor den Mund, so Franziskus: „Verliert nicht den Mut dazu!“, ermutigte er die Redakteure: „Ich habe da bei euch neulich etwas gelesen, das so klar war, dass es erzittern ließ – vielleicht nicht Italiens Politik, aber ganz sicher Italiens Kirche!“ scherzte er.

Die Wirklichkeit nicht zu verdecken – diesen Leitsatz gelte es auch in der redaktionellen Arbeit zu befolgen, wandte sich der Papst an seine Zuhörer. „Immer sagen: so ist es. Nie die Wirklichkeit zudecken. Und dann versuchen, sie zu verstehen, in ihrer interpretativen Unabhängigkeit – denn auch die Wirklichkeit hat eine Weise, sich selbst auszulegen, die es zu erkennen gilt“.

Unterscheidungsvermögen fördern

Die Jesuiten-Zeitschrift „Aggiornamenti Sociali“ greife „komplexe und kontroverse Fragen“ auf, so Papst Franziskus laut seinem vorbereiteten Redetext. Diesen fassen wir hier im Folgenden zusammen.

Als Beispiel nannte der Papst Themen wie künstliche Intelligenz und Bioethik, Migration und soziale Ungleichheit, nachhaltiges Wirtschaften sowie den Schutz der Umwelt und des Gemeinwohls durch die Politik. Angesichts dieser Zusammenhänge habe die Zeitschrift nicht nur die Aufgabe, „zuverlässige Informationen zur Verfügung zu stellen“, so der Papst. Sie ermögliche dem Leser auch, „sich ein Urteil zu bilden und verantwortlicher zu handeln“. Dies sei heute angesichts der „Welle der Fake News“ von besonderer Bedeutung, betonte Franziskus.

Auf Seite der Armen und Menschen am Rande

Das Begreifen sozialer Phänomene müsse für Christen stets mit einer Aufmerksamkeit für Randgruppen und gesellschaftlich Benachteiligte verbunden sein, unterstrich der Papst. Diese Menschen und Gruppen könnten Werte und Widersprüche der Gesellschaft vor Augen führen.

„Für die Christen ist die Unterscheidung sozialer Phänomene nicht von der bevorzugten Option für die Armen zu trennen. Diese Option hält uns dazu an, beim Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen auf ihrer Seite zu stehen, noch vor aller Hilfestellung für diese Menschen. Sie lehren uns viel über die Gesellschaft und deren Werte und Widersprüche!“ (vgl. Evangelii gaudium, 197-201)

Die Jesuitenzeitschrift „Aggiornamenti Sociali“ rücke gerade auch Menschen am Rande in den Blick, lobte der Papst. Er rief dazu auf, diesen Ansatz weiter zu verfolgen: „Auch diejenigen, die Wissenschaft betreiben und über soziale Fragen nachdenken sollte ein Herz des Hirten haben, der nach Schafen riecht“, formulierte er.  

Synodalität bei Analyse und Lösung der Probleme

Um die Probleme der Gesellschaft zu verstehen und anzugehen, brauche es vereinte Kräfte, fuhr der Papst fort. Es brauche eine „ernsthafte und ehrliche Auseinandersetzung, die alle Betroffenen mit einbeziehe“. Diesen Austausch bräuchten auch der Papst und die Kirche, betont Franziskus. Die habe schon der heilige Papst Paul VI. betont. Franziskus schließt daran an:

„Wir können dem heute hinzufügen, dass es eine synodale Methode braucht, (um gesellschaftliche Herausforderungen zu verstehen und anzugehen, Anm.): es geht darum, eine Beziehung aufzubauen, die aus Worten und Gesten besteht und sich ein gemeinsames Ziel zu geben, das es zu erreichen gilt. Das ist eine Dynamik, in der jeder frei spricht, doch auch zuhört und dazu bereit ist, zu lernen und sich zu ändern.“

Konflikt nicht leugnen, sondern als Ausgangspunkt nutzen

Franziskus ging an dieser Stelle grundsätzlich darauf ein, was er unter Dialog und Konfliktlösung versteht, auch in der Kirche.

„Einen Dialog zu führen bedeutet, eine Straße zu bauen, auf der man gemeinsam vorangeht. Und, wenn nötig, auch Brücken, auf denen man sich begegnen und die Hand reichen kann. Divergenzen und Konflikte dürfen nicht geleugnet oder verdeckt werden, wie wir das häufig versuchen, auch in der Kirche. Sie müssen empfangen werden, damit sie nicht zur Blockade werden und damit sie neue Prozesse ermöglichen: Der Konflikt kann nie das letzte Wort sein (vgl. Evangelii gaudium, 226-227).“

Dieser Dialog werde auch im Beitrag einer Zeitschrift wirksam, indem sie verschiedene Positionen und Standpunkte in Dialog treten lasse, so der Papst. Dabei sollte die Journalisten und Autoren der Beiträge stets vom Konkreten ausgehen. Die Berichte und ihre Themen sollten in Erfahrungen und sozialen Praktiken wurzeln und sollten sich nicht in Ideen und Abstraktion verlieren.

Dialog der Generationen und Religionen

Neben der besonderen Aufmerksamkeit für Arme und Ausgegrenzte in der Gesellschaft gelte es vor allem auch den Dialog der Generationen und der Religionen zu fördern, betonte der Papst weiter. Er dankte allen Mitarbeitern der Jesuitenzeitschrift „Aggiornamenti Sociali“ für ihren kostbaren Dienst, der zur „Orientierung in einer sich verändernden Welt“ beitrage. Und er ermutigte sie, sich weiter für Gerechtigkeit, Benachteiligte und den Schutz des Gemeinsamen Hauses einzusetzen.

Die Zeitschrift ist Teil des europäischen Netzwerkes der Jesuiten und des Jesuiten-Netzwerkes Italien.

(vatican news – pr)

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06. Dezember 2019, 12:15