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Rabat: Die Ansprache des Papstes im Caritas-Zentrum

Der Papst hat am Samstagabend das Caritas-Zentrum in Rabat besucht und eine Ansprache gehalten, die vor allem das Thema der Migration behandelte. Hier eine offizielle deutsche Übersetzung seiner Rede.

Liebe Freunde,

ich freue mich über diese Möglichkeit, euch während meines Besuchs im Königreich Marokko zu begegnen. Es ist eine erneute Gelegenheit für mich, meine Nähe zu euch allen zum Ausdruck zu bringen, und mit euch einer großen und schweren Wunde entgegenzutreten, die den Beginn dieses 21. Jahrhunderts weiterhin stark belastet. Es ist eine Wunde, die zum Himmel schreit. Deshalb wollen wir nicht, dass die Gleichgültigkeit und das Schweigen unsere Antwort darauf seien (vgl. Ex 3,7). Besonders angesichts der vielen Millionen Flüchtlinge und anderer zur Migration Gezwungener, die internationalen Schutz suchen, ganz zu schweigen von den Opfern des Menschenhandels und neuer Formen der Sklaverei durch kriminelle Organisationen. Niemand kann diesem Leid gleichgültig gegenüberstehen.

Ich danke Erzbischof Santiago Agrelo Martínez für seine Willkommensworte und für das Engagement der Kirche im Dienste der Migranten. Ich danke auch Jackson für sein Zeugnis; ich danke euch allen, den Migranten und den Mitgliedern der Vereinigungen, die ihnen zur Seite stehen und heute Nachmittag zu diesem Treffen gekommen sind, auf dem wir unsere Verbundenheit stärken und weiter daran arbeiten wollen, menschenwürdige Lebensbedingungen für alle zu gewährleisten. Wir alle sind aufgerufen, auf die zahlreichen Herausforderungen der gegenwärtigen Migrationsbewegungen mit Großzügigkeit, Bereitschaft, Weisheit und Weitsicht zu reagieren, jeder nach seinen jeweiligen Möglichkeiten (vgl. Botschaft zum Welttag des Migranten und Flüchtlings 2018).

        Vor einigen Monaten fand hier in Marokko die internationale Regierungskonferenz von Marrakesch statt, auf der eine globale Vereinbarung für eine sichere, geordnete und geregelte Migration verabschiedet wurde. »Der Migrationspakt stellt für die internationale Gemeinschaft einen wichtigen Schritt nach vorne dar, denn er geht im Rahmen der Vereinten Nationen zum ersten Mal auf multilateraler Ebene dieses Thema in einem Dokument von gewichtiger Bedeutung an.« (Ansprache an das beim Heiligen Stuhl akkreditierte Diplomatische Corps, 7. Januar 2019).

Diese Vereinbarung erlaubt es uns, zu erkennen und uns bewusst zu werden, dass »es nicht nur um Migranten geht« (vgl. Thema des Welttages der Migranten und Flüchtlinge 2019), so als ob ihr Leben eine fremde Realität oder eine Randerscheinung wäre, die nichts mit dem Rest der Gesellschaft zu tun hätte, so als ob ihr Status als Personen mit Rechten aufgrund ihrer momentanen Situation „ausgesetzt“ wäre; »das Menschsein eines Migranten hängt eben nicht davon ab, ob er sich diesseits oder jenseits einer Grenze aufhält«[1].

Hier geht es um das Bild, das wir als Gesellschaft abgeben wollen, und um den Wert eines jeden Lebens. Es gab viele positive Schritte nach vorn in verschiedenen Bereichen, insbesondere in den entwickelten Gesellschaften, aber wir dürfen nicht vergessen, dass der Fortschritt unserer Völker nicht allein an der technologischen oder wirtschaftlichen Entwicklung gemessen werden kann. Er bemisst sich vor allem an der Fähigkeit, sich von den Schicksalen derer berühren und bewegen zu lassen, die an die Tür klopfen und mit ihren Blicken alle falschen Götzen, die das Leben mit Hypotheken belasten und versklaven, diskreditieren und entmachten; Götzen, die ein illusorisches und flüchtiges Glück versprechen, welches das wirkliche Leben und das Leiden der anderen außer Acht lässt. Wie verlassen und unwirtlich eine Stadt wird, wenn sie die Fähigkeit zum Mitgefühl verliert! Eine herzlose Gesellschaft... eine sterile Mutter. Ihr seid keine Außenseiter, ihr seid in der Herzmitte der Kirche.

Aufnehmen, schützen, fördern und integrieren – diese vier Verben möchte ich denjenigen an die Hand geben, die dazu beitragen wollen, diese Vereinbarung konkreter und realer zu gestalten, auf dass sie sich weise einbringen können, anstatt zu schweigen; dass sie helfen können, anstatt zu isolieren; dass sie aufbauen können anstatt aufzugeben.

Liebe Freunde, ich möchte hier noch einmal auf die Bedeutung dieser vier Verben hinweisen. Sie bilden einen Orientierungsrahmen für alle. In der Tat sind wir alle an dieser Aufgabe beteiligt – zwar auf unterschiedliche Weise, aber doch haben wir alle damit zu tun –, und wir alle sind notwendig, um ein würdigeres, sichereres und solidarischeres Leben zu gewährleisten. Gerne stelle ich mir vor, dass der erste freiwillige Helfer, Beistand, Retter und Freund eines Migranten ein anderer Migrant ist, der die Qual eines solchen Weges aus eigener Erfahrung kennt. Eine groß angelegte Strategie, die in der Lage ist, Würde zu verleihen, ist kaum denkbar, wenn man sich nur auf Hilfsaktionen für Migranten beschränkt. Das ist wichtig, aber nicht genug. Es ist notwendig, dass ihr Migranten euch selbst als erste Protagonisten und Verantwortliche in diesem ganzen Prozess wahrnehmt.

Diese vier Verben können helfen, Allianzen zu bilden, die in der Lage sind, Räume der Aufnahme, des Schutzes, der Förderung und Integration zu eröffnen, Räume also, in denen Würde möglich ist.

        »Wenn wir das gegenwärtige Szenario betrachten, so bedeutet aufnehmen vor allem, den Migranten und Flüchtlingen breitere Möglichkeiten für eine sichere und legale Einreise in die Zielländer anzubieten.« (Botschaft zum Welttag der Migranten und Flüchtlinge 2018). Die Erweiterung der regulären Migrationswege ist in der Tat eines der Hauptziele des weltweiten Abkommens. Diese gemeinsame Anstrengung ist notwendig, um den „Menschenfleisch-Händlern“, die mit den Träumen und mit den Nöten der Migranten Geschäfte machen, keine neuen Räume zu geben. Bis diese Verpflichtung vollständig erfüllt ist, muss die drängende Realität der ungeregelten Migrationsbewegungen mit Gerechtigkeit, Solidarität und Barmherzigkeit angegangen werden. Kollektivausweisungen, die keine ordnungsgemäße Behandlung von Einzelfällen ermöglichen, dürfen nicht akzeptiert werden. Andererseits sollten außerordentliche geregelte Verfahren, insbesondere für Familien und Kinder, gefördert und vereinfacht werden.

        Schützen bedeutet, die Verteidigung »der Rechte und der Würde der Migranten und der Flüchtlinge unabhängig von ihrem Migrationsstatus« zu gewährleisten (ebd.). In Anbetracht der hiesigen Wirklichkeit muss der Schutz in erster Linie auf den Migrationsrouten gewährleistet werden, die leider oft Schauplatz von Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch aller Art sind. Hier scheint es auch notwendig zu sein, den Migranten in einer Situation großer Verwundbarkeit, den zahlreichen unbegleiteten Minderjährigen und den Frauen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Es ist wichtig, jedem eine angemessene medizinische, psychologische und soziale Unterstützung garantieren zu können, um denjenigen ihre Würde wiederzugeben, die sie entlang ihres Weges verloren haben, so wie es die Mitarbeiter dieser Einrichtung mit Engagement tun. Unter euch gibt es einige, die bezeugen können, wie wichtig diese Schutzdienste sind, um ihnen Hoffnung zu geben für die Zeit, in der sie in den Aufnahmeländern zu Gast sind.

Fördern bedeutet, dafür zu sorgen, dass alle, sowohl Migranten als auch Einheimische, ein sicheres Umfeld finden, in dem sie sich ganzheitlich entfalten können. Diese Förderung beginnt mit der Anerkennung der Tatsache, dass niemand menschlicher Abfall ist, sondern Träger eines persönlichen, kulturellen und professionellen Reichtums, der dort, wo er gesehen wird, sehr wertvoll sein kann. Die Aufnahmegesellschaften werden bereichert, wenn sie in der Lage sind, den Beitrag der Migranten so viel wie möglich zur Geltung zu bringen und jede Art von Diskriminierung und jedes fremdenfeindliche Gefühl zu verhindern. Das Erlernen der Landessprache als wesentliches Instrument der interkulturellen Kommunikation sollte auf jeden Fall stark gefördert werden, ebenso wie alle positiven Formen zur Vermittlung eines Verantwortungsbewusstseins der Migranten gegenüber der Gesellschaft ihres Gastlandes, indem sie lernen, deren Menschen und soziale Strukturen, Gesetze und Kulturen zu respektieren, und so einen verstärkten Beitrag zur ganzheitlichen menschlichen Entwicklung aller zu leisten.

Dabei sollten wir nicht vergessen, dass die humanitäre Förderung von Migranten und ihren Familien bereits in den Herkunftsgemeinschaften beginnt, wo neben dem Recht auf Auswanderung auch das Recht, nicht zur Auswanderung gezwungen zu sein, garantiert werden muss, d.h. das Recht, in der Heimat Bedingungen vorzufinden, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Ich schätze und unterstütze die Projekte internationaler Zusammenarbeit und die transnationalen Entwicklungsprogramme, die keine eigenen Interessen verfolgen und bei denen Migranten als Hauptakteure miteinbezogen werden (vgl. Rede vor Teilnehmern des Internationalen Forums „Migration und Frieden“, 21. Februar 2017).

Integrieren bedeutet, sich in einen Prozess einzubringen, der sowohl das kulturelle Erbe der Gemeinschaft des Aufnahmelandes als auch das der Migranten zur Geltung bringt und so eine interkulturelle und offene Gesellschaft entstehen lässt. Wir wissen, dass es keineswegs einfach ist, in eine fremde Kultur einzutreten – sowohl für die Ankommenden als auch für die Ansässigen –, sich in die Lage von so verschiedenen Menschen hineinzuversetzen sowie ihre Gedanken und Erfahrungen zu verstehen. So verzichten wir oft auf die Begegnung mit anderen und errichten Barrieren zur Verteidigung (vgl. Predigt zum Welttag der Migranten und Flüchtlinge, 14. Januar 2018). Integration erfordert also, dass man sich nicht von Angst und Unwissenheit leiten lässt.

Hier sprechen wir von einem Weg, den wir als wahre Reisegefährten gemeinsam gehen müssen und der alle, Migranten und Einheimische, in den Aufbau vielgestaltiger und für kulturelle Prozesse offene Städte einbezieht, Städte, die in der Lage sind, den Reichtum der Unterschiede in der Begegnung der Menschen zur Geltung zu bringen. Und auch hier können viele von euch persönlich bezeugen, wie wichtig ein solches Engagement ist.

Liebe Migranten, liebe Freunde, die Kirche versteht die Leiden, die euren Weg markieren, und sie leidet mit euch. In den so unterschiedlichen Situationen, in denen sie euch begegnet, möchte sie euch daran erinnern, dass Gott uns allen Leben schenken will. Sie will an eurer Seite sein, um mit euch das Beste für euer Leben zu erreichen. Denn jeder Mensch hat das Recht auf Leben, jeder Mensch hat das Recht, Träume zu haben und in unserem „gemeinsamen Haus“ seinen je eigenen Platz finden zu können! Jeder hat ein Recht auf Zukunft.

Ich möchte noch einmal allen danken, die sich überall auf der Welt in den Dienst der Migranten und Flüchtlinge gestellt haben, und heute vor allem euch, den Caritasmitarbeitern, die ihr die Ehre habt, so vielen unserer Brüder und Schwestern sowie allen Partnerorganisationen gegenüber im Namen der ganzen Kirche die barmherzige Liebe Gottes zu zeigen. Ihr wisst gut und erlebt das auch, dass es für den Christen „nicht nur um Migranten geht“, sondern dass es Christus selbst ist, der an unsere Türen klopft.

Möge der Herr, der während seines irdischen Lebens die Not der Verbannung am eigenen Leib erfahren hat, jeden von euch segnen und euch die Kraft geben, die ihr braucht, um nicht den Mut zu verlieren und füreinander ein „sicherer Aufnahme-Hafen“ zu sein.

Ich danke euch.

(vatican news – mg)

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30. März 2019, 18:15