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Arunas Kucikas, der Vorsitzende des Caritasrates von Litauen Arunas Kucikas, der Vorsitzende des Caritasrates von Litauen 

Litauen: „Bis vor kurzem hieß es, Arme sind selber Schuld“

Der rasant wachsende Abstand zwischen arm und reich in Litauen beschäftigt die katholische Kirche in dem Land sehr. Wer auf mehr Solidarität pocht, der setzte sich bis vor wenigen Jahren in Litauen dem Vorwurf aus, er habe Sehnsucht nach der Sowjetunion. Das ändert sich gerade, sagte uns in Vilnius der Vorsitzende des Caritasrates von Litauen, Arunas Kucikas.

Gudrun Sailer – Vilnius

Die Wirtschaft in Litauen wächst, dennoch sind heute nach offiziellen Zahlen 29 Prozent der Bevölkerung arm. „Das zeigt, dass er Wohlstand, der entsteht, nicht für alle ist“, so Arunas Kucikas. Immerhin, die aktuelle Regierung habe Einkommensungleichheit als Hauptthema  auf ihre Agenda gesetzt. Der Caritas-Verantwortliche sieht auch eine gute Entwicklung in der öffentlichen Debatte über Armut und Solidarität.

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„Noch vor einigen Jahren war es nicht so einfach. Wenn man über Verteilung des Wohlstands sprach, über etwas höhere Steuern oder mehr Sozialstaat, Gemeinwohl, solche Themen – da kam schnell der Vorwurf der Nostalgie nach der Sowjetunion.  Vor allem vom aktiven Teil der Gesellschaft, gut gebildete Leute, die Business machen. Es wurde gesagt, wir wollen keine neue Sowjetunion hier, was Soziales angeht. Jetzt hat sich die Stimmung geändert. In der Öffentlichkeit ist es heute normal zu sagen, ja, der Abstand zwischen arm und reich ist ein Problem, und wir müssen es lösen. Das sagen die politischen Parteien, sogar die Liberalen, und auch die Arbeitgeber.“

„In der Öffentlichkeit ist es heute normal zu sagen, ja, der Abstand zwischen arm und reich ist ein Problem, und wir müssen es lösen. Das sagen die politischen Parteien, sogar die Liberalen, und auch die Arbeitgeber“

Papst Franziskus hat den Finger oft auf diese Wunde gelegt: Solidarität der Reichen mit den Armen. Sein Besuch in Litauen ist deshalb auch eine Einladung,  sich mehr in eine zutiefst christliche Lebenshaltung der Solidarität  einzuüben, sagt Kucikas. „Wir fühlen die Stimmung, dass immer noch viele Menschen bei uns sagen, die Armen sind selbst schuld. Wenn man so denkt, dann ist es auch schwierig zu helfen – politisch und praktisch. Wenn wir die Lage etwas tiefer verstehen würden, könnten wir mehr machen. Aber im Moment haben wir noch eine relativ harte Haltung gegenüber der Armut.“

Dabei geht es für den Caritasmann nicht bloß um Almosen, sondern um eine tiefgreifende Haltungsänderung der ganzen Gesellschaft in Litauen, einem Land, in dem sich acht von zehn Menschen zur katholischen Kirche bekennen.

„Wir müssen eine Gesellschaft bilden, die familienähnlicher wird und sich nicht nur nach den Interessen ausgestaltet. Familie heißt, es muss ein Platz für jeden gefunden werden. Nur so könnten wir mehr in Frieden leben und unsere Freiheit leben, und nicht so viele Menschen verlieren, die ausreisen. Solidarität und Barmherzigkeit, als Basis der Solidarität. Das müssen wir ändern.“

„Wir müssen eine Gesellschaft bilden, die familienähnlicher wird und sich nicht nur nach den Interessen ausgestaltet. Familie heißt, es muss ein Platz für jeden gefunden werden“

Kucikas selbst hat am Samstag Adoptiv- und Pflegefamilien mit ihren Kindern zur Begegnung mit Papst Franziskus beim Heiligtum der Muttergottes der Barmherzigkeit in Vilnius begleitet. Das Problem der verlassenen Kinder ist in Litauen dramatisch hoch. „Wir haben immer noch über 3.000 Kinder in Institutionen, und jedes Jahr können wir für 100 Kinder einen Platz in einer Familie finden“, sagt Kucikas. „Das ist besonders schmerzhaft für kleinere Kinder, die krank sind, denn später werden die Probleme größer, wenn wir es nicht rechtzeitig schaffen, sie in Familien zu bringen.“

 In Litauen selbst gebe es relativ wenige Familien, die sich für solche Kinder öffnen, sagt Kucikas. Viel aufgeschlossener seien da Familien im westlichen Ausland – und hier kommt ein unerwartetes Lob: „Was uns bis jetzt wirklich begeistert, ist, dass die ausländischen Familien nicht nur die besten und schönsten Kindern suchen, sondern sie fragen bewusst auch nach Kindern, die Probleme haben, Gesundheitsprobleme und andere. Und das besagt: in Litauen müssen wir mehr Sensibilität zeigen. Als Christen, als katholisches Land, müssen wir einfach mehr machen für die Gesellschaft, und der Papst hat ein Zeichen gesetzt, dass wir mit solchen Kindern solidarisch sein müssen.“

Von Armut betroffen sind in Litauen Kucikas zufolge dieselben Gruppen von Menschen wie im Rest Europas: Rentner, Alleinerziehende – die Scheidungsrate ist hoch – und solche, die zwar regulär arbeiten, aber zu so niedrigem Lohn, dass es nicht zum Leben reicht.

 

Neu hinzu kommende Gruppe von Armen: Ausländische Arbeitsmigranten

 

Neu hinzu kommt gerade eine weitere Gruppe: Arbeitsmigranten. Denn Litauen ist nicht nur Auswanderungsland, nicht weniger als 800.000 Menschen haben seit dem EU-Beitritt 2004 ihr Land verlassen, sondern zunehmend auch Einwanderungsland. Arbeitsmigranten aus den Nachbarländern Ukraine und Weißrussland suchen ihr Glück in Litauen, etwa im Baugewerbe. Die Caritas hat bereits erste Projekte zur Integration dieser Menschen geschaffen, sagt Kucikas. Der Caritas-Verantwortliche würdigt hier ausdrücklich die Gewerkschaften seines Landes.

„Obwohl unsere litauischen Arbeitnehmer noch nicht so stark in Gewerkschaften organisiert sind, sind sie in diesem Bereich aktiv. Sie sagen, es ist eine gefährliche Entwicklung, und diese Menschen müssen so wie die litauischen Arbeiter auch ein normales Gehalt bekommen.“

„Der Papst bedeutet für sie auch Hoffnung fürs eigene Leben“

Für Litauens Arme ist der Papstbesuch jedenfalls ein großes Geschenk, resümiert der Caritas-Verantwortliche. „Wir haben viel mit unseren Menschen gesprochen, um die wir uns kümmern, Obdachlose beispielsweise, und gesagt, der Papst kommt, und das berührt die Menschen. Gerade vor zwei Tagen hatten wir ein Mittagessen in einer Suppenküche in Kaunas, sie wollten zur Messe, die hatten keine Tickets, aber sie wurden informiert, sie können kommen. Sie waren angesprochen. Ich denke, der Papst bedeutet für sie auch Hoffnung fürs eigene Leben. Auch wenn praktisch oder logisch gesehen nicht viel geschehen kann - aber dass es was bewirken kann, zumindest in der Zukunft, an die wir glauben.“  

(Vatican News – gs)

 

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23. September 2018, 08:03