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Prof. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz Prof. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz 

Betrachtung zum Jahreswechsel: Von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Prof. Gerl-Falkovitz ruft uns dazu auf, die Augen mit dem Magnificat zu öffnen, Marias gewaltiger Botschaft der Freude. Die deutsche Philosophin, die Trägerin des Ratzinger-Preises 2021 ist, liest den Text für uns genauer - und so binden sich diese Worte mit unerschöpflichen Hinweisen zusammen.

Botschaft der Freude: Maria

Silvester 2022

Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Von dem englischen Dichter der Shakespeare-Zeit, Christopher Marlowe, stammt eine berühmte Zeile: über Helena, um deren Schönheit willen vor Jahrtausenden der Krieg um Troja ausbrach: „the face that launched a thousand ships“ / „das Gesicht, das losriss tausend Schiffe“.

Hier zum Nachhören

Wir denken jetzt nach über eine Frau, deren Gesicht noch viel mehr in Fahrt brachte - über Jahrhunderte hinweg und für alle Zukunft: Es löste aus Freude, Begeisterung, Hingabe, Nachfolge, Gedichte, Orden = Ordnungen des Lebens, es löste aus Bilder, Altäre, Statuen, in der unermesslichen Vielzahl nur von einem übertroffen: ihrem eigenen Sohn. Woher kommt diese unabsehbare Wirkung?

Maria kennt Jesus wie niemand sonst

Sie hat es selbst in einem Jubellied ausgesagt: Welche Frau hat schon Gott geboren? Welche Frau kennt seine kindlichen Regungen, sein Weinen, sein Lachen, lebt dreißig Jahre mit ihm, der für sie sorgt - und welche Frau erfährt die Hochstunden seines Lebens, als die Menge ihm ergriffen zuhört, als er zum König ausgerufen werden und das geheimnisvolle Reich anbrechen soll, und als er zuletzt verblutet. Ecce homo. Das ist der Mensch, der das Weltall ge-schaffen und die Geschichte umgestürzt hat, und sie war Zeugin. Davon spricht ein Text, gewebt aus allen Fäden des Glücks, das von diesen beiden Menschen ausgeht: das Magnificat. Wie alle großen Texte liegt es schon im Ohr, auch in den wundervollen Vertonungen von Palestrina, Buxtehude, Bach bis zu Messiaen. Aber das Bekannte ist immer das Unbekannte. Und es ist heute das Schicksal der ungeheuren, unerschöpflichen biblischen Welt: unbekannt zu sein.

„Die Aussagen der Heiligen Schrift über Maria sind sparsam“

Aber was ist erstrangig unbekannt? Maria selbst. Wir können über sie gleichermaßen wenig und viel zum Ausdruck bringen. Wenig, weil die Aussagen der Heiligen Schrift über sie zwar großartig, aber zugleich sparsam sind; viel, weil ihre Verehrung und Rühmung seit der frühen Kirche immer neue Züge enthüllt.
Versuchen wir, die Augen zu öffnen mit dem Magnificat, Marias gewaltiger Botschaft der Freude. Liest man den Text genau, wie das jetzt geschehen soll, so binden sich diese Worte mit unerschöpflichen Hinweisen zusammen. Spuren der Freude von weither…

Wie entsteht das Magnificat?

Als Maria mit dem Kind im Leib - von dem noch niemand weiß - über das Gebirge geht, trifft sie eine andere schwangere Frau. Und diese begreift urplötzlich alles - denn ihr eigenes ungeborenes Kind kommt in ungeheure Erregung im Mutterleib. Da bestätigt Elisabeth völlig überrascht und selbst erregt, was Maria in der abgrundtiefen Stunde in Nazareth hörte: Mutter des seit Jahrhunderten ersehnten Kindes zu sein. Aber Elisabeth nennt sie umstandslos und ergreifend „Mutter des Herrn“, griechisch: des Kyrios. Das ist nichts Geringeres als die Übersetzung des jüdischen Gottesnamens: Adonai. Dieser höchste Name wurde bei den Lesungen der Thora anstelle von „Jahwe“ gebraucht - denn ihn durfte man wegen seiner umwerfenden Heiligkeit nicht aussprechen.

„Du hast geglaubt, was Kyrios-Adonai dir sagen ließ“

Und Elisabeth nennt den Kyrios sofort zum zweitenmal: „Du hast geglaubt, was Kyrios-Adonai dir sagen ließ.“ In dem einen Wort „Herr“ binden sich noch unentfaltet viele Geheimnisse zusammen; sie werden erst nach und nach wie eine Schatztruhe geöffnet. In der überraschenden Nennung des „Herrn“, Kyrios-Adonai, wird bestätigt, was bisher nur Maria wußte und was ihr Intimum war. Dem Augenschein nach ist sie ja noch nicht sichtbar schwanger - die Szene mit Elisabeth ist also nicht weniger als eine zweite Verkündigung.

Marias Gesang ist Theologie

Marias Antwort ist Ausbruch überwältigender Freude. Marias Gesang ist Theologie, Erbe jüdischer Frömmigkeit, Erbe erleuchteter Klarheit, Ambrosius spricht später von einer „nüchternen Trunkenheit / sobria ebrietas“.
Wir holen vier Aussagen aus dieser nüchternen Trunkenheit heraus.

Maria - Detail eines Gemäldes von Sandro Botticelli
Maria - Detail eines Gemäldes von Sandro Botticelli

1. Der Gesang beginnt mit dem Wort „groß“, mega. Es gibt eine Größe, für die diese Welt keinen Vergleich hergibt. Es meint die Größe eines Herrn, der das Ganze der Geschichte in der Hand hält, tausenderlei Fäden zugleich zusammenflicht in ein Ganzes, und daraus unübersehbar vieles, ja alles schafft und begabt. Solche Größe schafft gewaltigen Zusammenklang. Dasein ist Symphonie. Kein dunkler Wirrwarr der Geschichte mehr, trotz allem Unleserlichen, vielmehr: Wege der Liebe, Wege des Lichts. Heute verstehen wir den Einzelnen (fast) absolut, losgelöst von den tragenden Kräften der Herkunft, der Geschichte, eines verläßlichen Bodens, aber ebenso losgelöst von einer Zukunft, weil sie vor allem als Katastrophe erwartet wird.

„Was sind schon Eltern, was Heimat, was Blutbindung - wenn wir nur noch „letzte Generation“ sein sollen?“

Was sind schon Eltern, was Heimat, was Blutbindung - wenn wir nur noch „letzte Generation“ sein sollen? Was ist schon Zukunft, wenn unterschwellig die Selbsttötung angeboten wird, wenn Kinder als Gefahr für das Klima gelten, wenn Frauen sich deswegen den Uterus herausoperieren lassen?
Aber „mega“ ist etwas anderes. Göttlich groß ist das Einbinden des Einzelnen in ein Gesamtwerk, auch wenn es für uns undurchschaubar, überwältigend ausgefächert ist. Wie wunderbar ist Marias Einsicht, daß sie „von Anfang an“ vorgesehen war und durch die Geschlechterketten vorbereitet wurde. Das ist tiefste Freude. Kein Einzelschicksal - sondern immer schon im Entwurf vorgesehen - wie Eva im Arm Gottvaters ruht, als er Adam erschafft, so in der Sixtina.

„Er wird uns einmal das „von fernher Gedachte“ unseres Daseins, das oft so einsam erscheint, und die weithin fruchtbringende Wirkung unseres Tuns zeigen“

Wir dürfen, wir sollen das auf uns übertragen. Die alles überragende Größe Gottes zeigt sich darin: Er wird uns einmal das „von fernher Gedachte“ unseres Daseins, das oft so einsam erscheint, und die weithin fruchtbringende Wirkung unseres Tuns zeigen, bis in fernste Geschlechter, und wir werden uns auch gegenseitig loben, staunen, die ungeahnte Frucht unseres Daseins erkennen - gelöst aus der scheinbaren Verlorenheit und Vergeblichkeit des Tuns. Auch gelöst aus dem Labyrinth schuldigen Versagens, denn selbst die Reue muß ihm zuletzt dienen. Auch gelöst aus der Belastung, von den eigenen Eltern vielleicht gar nicht gewollt gewesen zu sein. Stattdessen: Seit langem läuft die Vorsehung Gottes auf uns zu. Schon „im Anfang“ der Welt gewollt sein - unvordenklich, das ist Größe, die jubeln läßt. Warum? Weil sie den Sinn, die Richtung unseres Daseins auf ein Ziel hin öffnet.

Fiat mihi

 

2. Gleich danach steht das Wort „Niedrigkeit“, verstärkt durch die „Magd“. Ist das ein anstößiges Gegenbild zur Größe? Niedrigkeit, tapeinosis, kommt im Neuen Testament nur viermal vor, immer aber mit der auch im Deutschen hörbaren Erniedrigung. Magd, griechisch doulos, könnte durchaus auch Sklavin heißen. Schon die Verkündigung (Lk 1,26-37) enthält die „magdliche“ Haltung: das Fiat Marias als Antwort. So bleibt das Anstößige. Aber wie immer: Gerade im Widerständigen liegt ein Schlüssel, mehr noch: eine Überraschung.
Die Antwort Marias in Nazareth wird häufig abgekürzt mit „Ja“. Das steht aber nicht da, viel Tieferes steht da: „Fiat mihi“ - „Es werde mir“. Fiat wurde schon einmal gesagt: im Anfang der Welt. Es werde - und es wurde. Und in Nazareth kommt es genau nochmals, das schöpferische Fiat.

„In Nazareth wird wieder geschaffen, aber: Größeres als im Anfang, nicht mehr Welt, sondern erlöste Welt“

In Nazareth wird wieder geschaffen, aber: Größeres als im Anfang, nicht mehr Welt, sondern erlöste Welt. Der zweite Anfang ist größer als der erste: Im ersten Anfang hat Gott die Welt aus sich entlassen, im zweiten Anfang wird Gott Mitte der Welt. In Maria geschieht dieser zweite Anfang. Erlösung ist größer als die Schöpfung. Welt wird Ort der Herrlichkeit. „Das Niedrige“ ist nicht mehr das Schlechte, Verächtliche. Der göttliche Eros zieht nach unten. Viel Wissen über Gott, so Augustinus, habe er auch in den antiken Religionen gefunden; nur von dem Einen wußten sie nichts: vom Herabsteigen des Sohnes, von seiner humilitas, seiner Freude an der Erde, seiner Freude am Fleisch.
Die „Magd“ ist der Ort der Neu-Schöpfung. Die Stunde in Nazareth überholt den Anfang der Schöpfung.

Wunderbar ist es, Magd zu sein

3. Ja, „der Mächtige hat Großes an mir getan“ - an ihr, und im Umkehrschluß: an uns hat er Großes getan. Seit der Stunde in Nazareth gilt die Schönheit, das Leuchtende des Unscheinbaren und „Kleinen“ (Mt 11,25; Lk 10,21).
Wunderbar ist es, Magd zu sein, in der die Neuschöpfung aufbricht. Unsere eigene Seligkeit besteht darin, dies zu verstehen. „Alle Generationen“, „Kind und Kindskind“ (Luther) gehören in dasselbe Wunder: Nur darin nimmt Gott Fleisch an. Adam und Eva überhoben sich, weil sie im eigenen Fleisch schon herrlich waren und nichts weiter geschenkt haben wollten.
Geschenkte Herrlichkeit ist ungeheuer viel schöner. Warum? Weil ihr die Liebe des Gebers anhaftet und sie als Duft umgibt. Mit Maria sind wir in den Duft einer unbegreiflichen, unbegriffenen Gabe gehüllt. Das Kleine ist das Große. Das Kind ist Gott. Der Verworfene ist der Eckstein. Die Magd ist Königin. Wunden werden leuchten. Alles wird anders und gelöst. Daher der nie verstummende Gesang.

„Denn viel Erbarmen war nötig, um die Linien des Blutes bis zum einzigen Sohn des Vaters weiterströmen zu lassen“

4. Gehen wir schon zum Schlußstein im Gewölbe: „Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen, / das er unsern Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.“
Ja, Erbarmen: Denn viel Erbarmen war nötig, um die Linien des Blutes bis zum einzigen Sohn des Vaters weiterströmen zu lassen. Das „Stammgut der Ahnen“ bedeutete ja auch „Rebellenblut (…) aus Männern und Frauen, die oft mehr zur Macht und zur Lust, zu Rausch und Trieb und Rache gebetet haben als zu Jahwe: Mörder und Lügner, Verräter, Abtrünnige, Götzendiener, Dirnen, Ehebrecher und Blutschänder stehen in der Reihe, die über Thamar und David, Bethsabe, Salomon und Roboam und die unseligen Könige nach ihm geht... Es war keine Kleinigkeit, den Fluch dieses Blutes zu tragen, voll dunkler Mächte und siedender Gier und ruchlosem Aufstand gegen den Herrn, Gott. - Wie konnten nur diese Ströme die Erde tränken, aus der der ‚neue Adam’ gebildet werden sollte an Leib und Seele - eindringen in das heimlichste Geäder des Seins, mit dem sich der Logos einer Person verband?“

 

Maria ist das Siegel auf seinem Bund

Aber: „Er nimmt sich seines Knechtes“, ja vielmehr „ seines Kindes“ an trotz all dieser Untaten. Die Davidstochter wird „Filter“, um dieses unreine Erbe zu reinigen, sie, die Sündelose. So verschränkt sich Maria mit dem gesamten Schicksal Israels, auch dem dunklen, gottvergessenen. Sie ist das Siegel auf seinem Bund.
Das alles ist Freude.
Wir haben mit einer Gedichtzeile begonnen, wir enden mit einer Gedichtzeile, diesmal des irischen Dichters William Butler Yeats. Er spricht von einem „Weib, so strahlend schön vor Lieblichkeit, / Daß Männer um die Mitternacht das Korn / Droschen beim Lichtschein einer Locke ihres Haars, / Einer gestohlenen, kleinen Locke ihres Haars.“
Wir brauchen gar nicht zu stehlen - nur leben, nur ihr zuarbeiten beim Schein ihres Haares, beim Schein ihres Gesichtes.

[1] Ida Coudenhove, Maria, in: Die Schildgenossen 7 (1927), 211-221, hier: 216f.

[1] William Butler Yeats, Die geheime Rose, in: ders., Die chymische Rose, Hellerau 1927, 78. 

(radio vatikan - redaktion claudia kaminski) 

 

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30. Dezember 2022, 09:35