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Weizenfeld in der Ukraine Weizenfeld in der Ukraine 

Jörg Alt: „Wir müssen alle Krisen, die es heute gibt, in Angriff nehmen"

Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit: Der deutsche Jesuit Jörg Alt ist ein streitbarer Verfechter einer neuen Form des Wirtschaftens. Ein Gespräch über Krisen, Containern und darüber, wie wir – als Gläubige oder auch nicht – vom Wissen ins Handeln kommen.

Gudrun Sailer - Vatikanstadt

Radio Vatikan: Ihr Eindruck ist, und das ist formuliert in Ihrem Buch mit dem imperativen Titel „Handelt!“, Ihr Eindruck ist: Die gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit sind eigentlich klar erkannt. Lösungen sind auf dem Tisch, aber es hapert am Handeln. Was ist denn zu tun, damit wir ins Handeln kommen?

P. Jörg Alt: In der Tat, wir haben kein Wissensproblem, sondern wir haben ein Handlungsproblem. Und das ist der erste wichtige Punkt, den wir allen Menschen klar machen müssen, weil viele denken, die Probleme sind groß, aber wir wissen keine Alternative. Und sobald bekannt ist, dass wir eben kein Wissens-, sondern ein Handlungsprogramm haben, kann jeder und jede schauen, wo er sich konkret engagieren kann. Das beginnt beim persönlichen Verhalten, also vom Weiter-So des bisherigen Lebensstils umzusteigen. Aber viel wichtiger ist, dass man versucht, sich gesellschaftspolitisch zu engagieren, um vor allen Dingen der Politik Beine zu machen, damit sie die richtigen und wichtigen Dinge endlich angeht.

Zwei Bücher von P. Jörg Alt: Handelt" und "Einfach Anfangen!"
Zwei Bücher von P. Jörg Alt: Handelt" und "Einfach Anfangen!"

Radio Vatikan: Die Kirche, überhaupt die Religionen, haben ja im Prinzip in ihren Traditionen starke sozialethische Gebote und durchaus handlungsorientierte Weisungen, auch in der katholischen Kirche und wie die katholische Soziallehre. Die Welt-Orthodoxie hat seit wenigen Jahren zum ersten Mal ein gemeinsames sozialethische Dokument, das, um diese zwei Beispiele zu nennen. Werden denn solche Angebote aus religiösen Traditionen heraus in unserer Zeit wichtiger? Werden die mehr akzeptiert als früher?

P. Jörg Alt: Wie wichtig diese Dokumente sind, haben ja die Enzykliken von Papst Franziskus gezeigt. Denn sowohl Evangelii gaudium als auch Laudato si als auch Fratelli tutti sind auf eine enorme Resonanz gestoßen, während die Dokumente, die der Papst zu Glaubensfragen, also zu internen Themen schreibt, kaum bekannt sind. Das zeigt doch ganz deutlich, dass selbst Menschen außerhalb der katholischen Kirche froh und dankbar sind für das, was der Papst, fußend auf einer guten Analyse und der katholischen Soziallehre, den Menschen und der Gesellschaft als handlungsleitende Kriterien zur Verfügung stellt.

Hier das ganze Interview zum Nachhören

Radio Vatikan: Viele jüngere Menschen scheinen heute Sympathie zu haben für das, was eben auch die katholische Soziallehre vorschlägt, damit es ein gutes Leben für alle geben kann. Und gutes Leben heißt: ein gutes Leben für alle. Das betrifft unter anderem Naturnähe, ein Lebensstil, für den sich junge Leute heute interessieren, soziale Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Zeit statt Zeug, all diese Dinge. Da ist, so scheint es, eine neue Toleranz für Verzicht. Macht Ihnen das Hoffnung?

P. Jörg Alt: Es kommen mehrere Dinge zurzeit zusammen. Das eine ist, dass die Wissenschaft auch immer wieder betont, dass es hier jetzt im aktuellen Stand der Klimanotstands-Krise nicht darum geht, dass wir bessere Techniken und noch mehr Produkte entwickeln, sondern dass es auch darum geht, dass wir uns fragen, was ein glückliches und ein gelingendes Leben eigentlich ausmacht. Und dann stellt man fest, dass es eben viele Dinge sind, die man nicht kaufen und besitzen kann, sondern die aus Beziehungen erwachsen. Und zu diesen Empfehlungen aus der Wissenschaft kommt tatsächlich eine Sensibilität besonders der jungen Generation, die genau auch diese Werte für sich als wichtig entdeckt. Und ja, ich denke schon, dass die Kirche versuchen kann, diese unterschiedlichen Ansätze zu bündeln und einer koordinierten Handlung zuzuführen.

Das BIP als Maßstab hat ausgedient

Radio Vatikan: Inwiefern hat denn das Bruttoinlandsprodukt ausgedient als Maßstab unseres Wirtschaftens und unseres Gesellschaft-Seins?

P. Jörg Alt: Das Bruttoinlandsprodukt misst ja vor allen Dingen ein Wachstum von Wirtschaft und Einkommen. Aber unter den Kriterien des Bruttoinlandsproduktes sind Katastrophen wie im Ahrtal ein Segen für die Wirtschaft, weil dort Dinge kaputt gehen, die man dann aufwendig reparieren muss. Und jeder mit vernünftigem und gesundem Menschenverstand sieht ja, dass da etwas nicht stimmt! Denn natürlich wäre es doch besser, wenn die Dinge erst gar nicht kaputt gehen. Für das Geld, was man im Moment im Ahrtal zu Reparaturen einsetzt, hätte man unglaublich viel zur Prävention einsetzen können und dadurch die Schadenshöhe verhindert. Also wenn es darum geht, den Wohlstand oder besser das Wohlergehen eines Volkes zu messen, dann braucht man einen Maßstab, der den Nutzen als Nutzen, aber auch die Schäden als Schäden ausweist. Auf diesem Hintergrund sind zum Beispiel Unfälle oder Verbrechen oder Gesundheitsschäden kein Gewinn für die Wirtschaft, sondern zunächst einmal als Schaden zu bewerten. Solche alternativen Maßstäbe für das Wohlergehen eines Volkes gibt es. Die Politik könnte sie morgen schon als handlungsleitend für ihre Politik übernehmen.

Frau mit Brot und Wasser in Mariupol, Ukraine. 1. Juni 2022
Frau mit Brot und Wasser in Mariupol, Ukraine. 1. Juni 2022

Radio Vatikan: Sie haben sich über die Jahre als katholischer Sozialaktivist einen Namen gemacht. Sie haben Petitionen begleitet, Aktionen erdacht, Sie haben für Steuergerechtigkeit gekämpft, Stichwort Finanztransaktionssteuer, Sie haben Lebensmittel aus Mülltonnen gerettet, Stichwort Containern, und vieles mehr. Was haben Sie erreicht?

P. Jörg Alt: Im Zentrum meiner Arbeit hat immer gestanden, dass ich Aufmerksamkeit für Missstände erreichen wollte und Aufmerksamkeit für bestehende Handlungsalternativen. Und im Fall von Antipersonenminen waren es die Schäden, die die Waffen, die hier in Europa produziert werden, in armen Ländern anrichten. Im Fall der Finanztransaktionssteuer war es der Schaden, den die Weltwirtschaftskrise angerichtet hat, ohne dass die, die diese Krise verursacht haben, dafür bezahlt haben. Im Fall des Lebensmitteldiebstahls habe ich versucht, darauf aufmerksam zu machen, was auch Papst Franziskus schon oft angemahnt hat: nämlich dass der reiche Norden auf Kosten des globalen Südens lebt, indem wir viel zu viele Lebensmittel produzieren, auch in armen Ländern, die wir dann doch nur wegwerfen. Und das sind alles Dinge, die in einer Welt, wo der Klimanotstand vor der Tür steht, so nicht mehr weitergehen - wenn wir sicherstellen wollen, dass eine Ernährung für alle Menschen auf dieser Welt gewährleistet ist. Möglich ist es technisch, aber wir müssen uns eben mit diesen Themen relativ schnell auseinandersetzen. Und es ist eine Erfahrung auch der Fridays for Future-Bewegung, dass herkömmliche Proteste und Demonstrationen einfach nicht mehr die Aufmerksamkeit generieren und den Druck erzeugen, der nötig wäre, damit wir die uns verbleibenden zehn Jahre, die noch zur Verfügung stehen, um wichtige Kipppunkt zu vermeiden, zu nutzen. Deswegen beobachten wir in diesem Jahr eine Radikalisierung von Aktionsformen seitens junger Menschen vor allen Dingen. Also es geht ja nicht nur um den Diebstahl von Lebensmittel aus Mülltonnen, es geht mittlerweile auch um Autobahnblockaden, es geht um die Beschädigung von SUVs, es geht um Sabotage bei fossiler Infrastruktur. Also wir gehen ungemütlichen Zeiten entgegen.

Radio Vatikan: Sie beschreiben in „Handelt!“ auch bestimmte gesellschaftliche Kipppunkte, die großen Umbrüche. Ein solcher scheint uns bevorzustehen, wie Sie das gerade auch ausgeführt haben. Ihr Buch ist 2020 erschienen. Seither haben wir zwei weitere gigantische Krisen erlebt: die globale Pandemie und den Krieg in Europa. Zu welchen Umbrüchen genau wird das unsere Gesellschaft in Europa führen, Ihrer Einschätzung nach?

P. Jörg Alt: Nun, der Krieg in der Ukraine zeigt ja gerade, wie das Friedensthema mit der Umweltthematik und der Corona-Thematik verbunden werden kann. Hätten wir eben kein Wirtschaftssystem, das von fossilen Energien leben würde, hätten wir Putin nicht das Geld bezahlt, das er genutzt hat, um seine Armee aufzurüsten. Hätten wir keine Wirtschaft, die natürliche Ressourcen übernutzt und verschmutzt, hätten wir keine Pandemie bekommen. Wir müssen die Werte des aktuellen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems auf den Prüfstand stellen und schauen, was unter den Vorzeichen des herannahenden Klima-Notstandes noch möglich ist. Wie uns das gelingt, ist eine wirklich offene Frage, denn die Medien haben die Besonderheit, dass sie immer nur auf die Krise fokussieren, die gerade aktuell die Schlagzeilen bestimmt und damit den Eindruck erweckt, dass alle anderen Krisen - wie im Moment Artensterben und Klimawandel oder Corona - verschwunden wären. Und das ist ja gerade nicht der Fall.

„Wir können uns nicht mehr aussuchen, wie viele Krisen wir zeitgleich behandeln, sondern wir müssen alle Krisen, die es aktuell gibt, in Angriff nehmen“

Radio Vatikan: Was wäre da zu tun?

P. Jörg Alt: Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen ein umfassendes Problembewusstsein entwickeln und sagen: Wir können uns nicht mehr aussuchen, wie viele Krisen wir zeitgleich behandeln, sondern wir müssen alle Krisen, die es aktuell gibt, in Angriff nehmen, um zu schauen, dass wir noch eine lebenswerte Erde für die nachkommenden Generationen sichern können. Und dadurch, dass wir eben in unserem neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem eine Ursache für all die verschiedenen Krisen Symptome sehen, ist es auch möglich dort anzusetzen, weshalb auch die Wissenschaft sagt: Das eigentliche Problem ist eine moralische Revolution, also dass wir die Leitwerte des aktuellen Systems auf den Prüfstand stellen und durch Leitwerte ersetzen, die sozial gerechter und ökologisch nachhaltiger sind. Und da bin ich überzeugt, dass die katholische Soziallehre wichtige Impulse liefern kann und selbstverständlich Kirchen und Gläubige als Träger dieser Überzeugungen in der Gesellschaft einen enormen meinungsbildenden Druck erzeugen könnten.

Radio Vatikan: Seit neun Jahren ist Ihr Mitbruder Franziskus Papst. Er hat (nur) zwei Enzykliken geschrieben, Sie haben sie genannt: Laudato si und Fratelli tutti, beides Sozialenzyklikenb. Was erwarten Sie von Papst Franziskus in dieser Hinsicht noch?

 

P. Jörg Alt: Ehrlich gesagt erwarte ich mir von ihm nichts mehr, denn er hat eigentlich gesagt, was zu sagen ist. Die eigentliche Herausforderung ist, dass wir diese guten Ideen in der Kirche auch vor Ort lebendig machen. Und das ist doch offensichtlich das Problem. Denn wenn man schaut, wer Beifall geklatscht hat, waren es doch eigentlich eher Leute außerhalb der Kirche, während in der Kirche relativ wenig Leute gesagt haben, wir sollten uns diese Impulse des Papstes zu eigen machen. Es geht um die Umsetzung. Und hier müssen Kirchenleitungen, Hauptamtliche und Orden überlegen, wie wir den normalen Gläubigen davon überzeugen können, dass das jetzt wirklich ganz wichtige Themen sind, die wir in unserem Land und weltweit angehen müssen. Und wenn wir das tun, dann ist natürlich die katholische Kirche mit ihren über 1 Milliarde Mitgliedern ein Solidaritäts- und meinungsbildendes Netzwerk, an dem keiner vorbeikommt.

Radio Vatikan: Die Jesuiten in Zentraleuropa haben kürzlich ein sozial-ökologisches Zentrum gegründet, in Nürnberg. Sie sind eine treibende Kraft dahinter, was genau schwebt Ihnen vor? Was soll ausgehend von diesem Haus in Nürnberg?

P. Jörg Alt: Die Jesuiten haben vier apostolische Präferenzen, also Menschen mit Gott in Verbindung zu bringen für soziale Gerechtigkeit, für ökologische Nachhaltigkeit und die Anliegen der Armen und Jugendlichen einzutreten. Und mit diesem Zentrum wollen wir diese vier apostolische Präferenzen bündeln in einem gesellschaftlichen und politischen Engagement.

Der Jesuit Jörg Alt ist in Nürnberg als katholischer Hochschulseelsorger tätig.

(vatican news)

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07. Juni 2022, 12:20