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Schock und Trauer nach dem Vorfall in Berlin Schock und Trauer nach dem Vorfall in Berlin 

Nach Todesfahrt in Berlin: „Den tiefen Schrecken teilt jeder“

„Es war ein Schockmoment“, sagt Kathrin Oxen, Pfarrerin der Gedächtniskirche in Berlin, als sie von dem tödlichen Vorfall mit einem Auto in Berlin erfuhr. Die Kirche öffnete sofort ihre Türen und wurde so zur ersten Anlaufstelle. Das Interview ist vom Kölner Domradio.

DOMRADIO.DE: „Schon wieder“. Das war eine Reaktion, die man gestern nach der tödlichen Autofahrt in Berlin vielfach gehört hat. Was ging Ihnen besonders durch den Kopf?

Kathrin Oxen (Pfarrerin in der Gedächtniskirche in Berlin): Genau das, was Sie sagen: „Schon wieder“. Dieser erste Anruf, die erste Nachricht, wo noch nicht klar war, was genau passiert ist, war ein Schockmoment. Es ist jetzt wieder direkt an unserer Kirche etwas ganz Schlimmes passiert. Dann die Unübersichtlichkeit der ersten Stunden. Das ist wirklich belastend, muss ich schon sagen.

DOMRADIO.DE: Wie ist denn der Ablauf für Sie als Seelsorgerin? Wie geht man da Schritt für Schritt vor?

Oxen: Das Gute in so einer Situation ist, dass man etwas tun kann. Anders als die Betroffenen, die einfach nur geschockt und traumatisiert sind, sind wir sozusagen als Helfende in der Lage, auch etwas zu tun. Wir haben die Kirche geöffnet, dort wurden Zeugen befragt. Es war eine erste Anlaufstelle.

Hier das Interview mit Pfarrerin Oxen zum Nachhören

Da kann man konkret Menschen trösten, Wasser bereitstellen, Toiletten zeigen, ganz konkrete Dinge tun. Das ist für die Helfenden ein Stück weit normal, aber auch ganz gut, dass man überhaupt etwas tun kann und dem nicht so ausgeliefert ist. Alle, die dort waren, haben sofort ihre professionelle Rolle gefunden und konnten gut für alle Betroffenen da sein.

DOMRADIO.DE: Das „schon wieder“ bezieht sich auf den Weihnachtsmarkt-Anschlag von 2016, der direkt bei Ihnen an der Kirche passiert ist. Kann man da morbide schon fast fragen, ob Sie in so einer Situation Routine haben, mit den Menschen umzugehen?

Oxen: Routine natürlich nicht. Aber es hat sich schon gezeigt, dass sich durch diese Erfahrung von 2016 aus meiner Sicht viele Dinge verbessert haben. So schlimm wie es ist, man kann schon sagen, dass wir jetzt auch genau wissen, worauf man zu achten hat. Ich habe den Eindruck, dass auch das Thema Sorge um die Einsatzkräfte viel präsenter ist. Es ist gut, mit einer Selbstverständlichkeit diesen Kirchenraum als Zufluchtsort anbieten zu können. Das war die gute Erfahrung an diesem schrecklichen Tag.

DOMRADIO.DE: Am nächsten Tag sind die Diskussionen immer groß: Was steht dahinter? Ist das ein terroristisch motivierter Anschlag? War es jemand, der psychisch beeinträchtigt gewesen ist? Die Leute haben fast schon aufgeatmet, als es hieß, dass es wahrscheinlich kein terroristischer Hintergrund ist. Aber spielt das denn überhaupt eine Rolle für die Menschen vor Ort, für die Betroffenen, die in dieser Situation mit ihnen Kontakt haben?

Oxen: Natürlich nicht. Das Leid der Opfer unterscheidet sich ja nicht. Es ist ja nicht durch die Ursache begründet und vielleicht gut oder entlastend, dass nicht auch noch eine politische und gesellschaftliche Dimension angesprochen wird.

Andererseits kann man auch natürlich sofort die Fragen: "Warum tut ein Mensch so etwas? Wie kann so was passieren?" stellen. Die sind ja eher noch größer, wenn es sozusagen kein Motiv im engeren Sinne gibt.

Die Erklärungsversuche kommen dann noch eher an ihr Ende, weil das wirklich völlig unverständlich ist. Es ist ein ganz normaler Sommermorgen in Berlin gewesen. Ich gehe an dieser Stelle jeden Tag vorbei, es ist mein Arbeitsweg und es ist unglaublich, dass sich das so schnell von einem Moment auf den anderen ändern kann. Diesen tiefen Schrecken teilt, glaube ich, jeder.

DOMRADIO.DE: Aufgrund ihrer Vorgeschichte wissen Sie jetzt wahrscheinlich auch, wie es weitergeht, was in den nächsten Wochen und Monaten dann auf Sie seelsorgerlich zukommt?

Oxen: Unsere Kirche ist sowieso jeden Tag für Gebet, Einkehr und Kerzen anzünden geöffnet. Das brauchen wir nicht zu ändern. Wir werden jetzt noch einen kleinen Gedenkort in der Kirche einrichten, auch in unserer Gedenkhalle, in dem Museum. Wir sind einfach da. Das ist ein gutes Gefühl, dass wir das können und dass die Kirche so aufgestellt ist, dass das möglich ist, dass sie offen ist und Menschen da sind und wir auch Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner vermitteln können. Das ist einfach ein gutes Gefühl, was wir da haben.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

(domradio)

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09. Juni 2022, 14:49