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Eine Zeichnung des Fotos des kleinen Alan Kurdi, das 2015 um die Welt ging Eine Zeichnung des Fotos des kleinen Alan Kurdi, das 2015 um die Welt ging  

Die namenlosen Toten des Mittelmeers: Umgang in Würde?

Ein toter Flüchtlingsjunge, angespült an einem türkischen Strand: Sechs Jahre ist es her, dass das Schicksal des damals dreijährigen Alan Kurdi die Weltgemeinschaft erschütterte. Rund 23.000 Migranten sind seit 2014 auf dem Mittelmeer unter ähnlichen Umständen ums Leben gekommen. Daniela Stauffacher hat sich den Umgang mit diesen „namenlosen Grenztoten“ genauer angesehen.

Georg Haunschmidt – Vatikanstadt

„In den allermeisten Fällen weiß man nicht, um wen es sich bei den Toten handelt. Die bleiben unbekannt“, sagt die Schweizer Religionswissenschaftlerin im Interview mit Radio Vatikan. Noch seltener sei es, dass geborgene Migranten zu ihren Angehörigen zurückgebracht würden. Solche Rückführungen gebe es zwar – aber nur selten und meist privat organisiert und bezahlt. Oft wüssten Hinterbliebene gar nicht, dass ihre Lieben nicht mehr leben.

Zum Nachhören im Gespräch mit Daniela Stauffacher

Ein Grenzbereich

Stauffacher hat etliche Gespräche mit Menschen geführt, die die namenlosen Toten fanden, transportierten und bestatteten. Sie sprach mit Fischern, NGOs und der Küstenwache, mit Meeresanwohnern und Behördenvertretern, besuchte Dutzende Gräber und Gedenkfeiern in Süditalien.

Der Umgang mit diesen namenlosen Toten führt in einen Grenzbereich, wo persönliche Schicksale politische Missstände aufzeigen, wo sich ein System als unmenschlich erweist. Das hat die junge Wissenschaftlerin bei ihrer Feldforschung selbst so manches Mal berührt: „Wenn man abends alleine im Hotelzimmer sitzt und sich einen Tag lang namenlose Gräber angeschaut hat, dann wird man eigentlich wütend, dass das System auf diese Weise angelegt ist, dass diese Menschen so zu Tode kommen müssen“.

Tödliche Fracht

Geborgen würden die Toten zumeist auf dem Meer - „das können NGOs sein, das können aber auch Fischer sein, die Tote in ihren Netzen finden, auch die Küstenwache findet manchmal Leute.“ Fischer reagierten teils mit Angst auf solche Funde, da sie eine Beschlagnahmung ihrer Boote und polizeiliche Untersuchungen fürchteten und Sorge hätten, dass sie „vielleicht sogar monatelang ihrem Erwerb nicht mehr nachgehen können“. Es seien daher Fälle bekannt, „in denen die Fischer die toten Menschen oder auch Leichenstücke wieder zurück ins Meer geworfen haben aus Angst vor Konsequenzen“. Vereinzelt brächten auch größere Schlepperboote aus Libyen „eine tödliche Fracht“ nach Italien: „Da waren dann schon Menschen dabei, die im Unterdeck erstickt sind oder auch zerquetscht wurden.“

Versuche, die Toten zu identifizieren – mittels Obduktionen, sofern möglich DNA-Proben, weniger Habseligkeiten – führten oftmals zu keinem klaren Ergebnis, berichtet Stauffacher. „De facto ist es aber so, dass hier viele Fehler passieren, dass das nicht ganz oder nicht besonders einheitlich geregelt ist, dass da sehr viele Daten über diese Toten verloren gehen.“

Wie gedenken?

So seien viele der Mittelmeertoten selbst bei ihrer Bestattung immer noch namenlos, fährt sie fort. Diese durch Friedhofspersonal durchgeführten Beerdigungen liefen recht anonym ab: „Das sind sehr pragmatische, schnelle Angelegenheiten, wo auch niemand zugegen ist.“ Auf religiöse Gesinnung werde dabei häufig keine Rücksicht genommen. Immerhin gebe es Fälle, „wo zum Beispiel katholische Priester dann in den Hafen gerufen werden, wenn man weiß, dass es dort Tote gibt. Die werden dann so ein bisschen en passant, also im Vorbeigehen, gesegnet“. Auch gebe es Gedenkfeiern mit Priestern und Imamen, die sich um einen würdigen Abschied bemühten. 

„Die werden dann so ein bisschen en passant, also im Vorbeigehen, gesegnet.“

Für Angehörige der Toten sei das Gedenken jedenfalls schwer, fährt Stauffacher fort. Denn sie wüssten meist nicht, wo die Gräber der Verstorbenen liegen. Die Migranten, zumeist namenlos, würden darüber hinaus nämlich überwiegend nicht auf eigenen Migrantenfriedhöfen bestattet, sondern verstreut auf lokalen Friedhöfen - je nachdem, wo gerade Platz ist: „Und das ist ein großes Problem. So sind diese Leute praktisch nicht mehr auffindbar, weil sie unsystematisch und ad hoc verteilt werden.“

Mein Mann, dein Kind: Solidarität bis ins Grab

Diese Umstände sind nur schwer zu ertragen. Von Seiten der Lokalbevölkerung gebe es aber auch Formen der Anteilnahme und Solidarität, überhaupt überwiege Betroffenheit über die Ablehnung der Ankömmlinge. Blumengaben an Migrantengräbern, Gedenkfeiern lokaler Gemeinden oder die Namensvergabe an die unbekannten Toten deuteten darauf hin, so Stauffacher. Eine italienische Frau, die gerade selbst ihren Mann verloren hatte, habe sogar das Familiengrab für einen verstorbenen Migrantenjungen öffnen lassen, den sie neben ihrem Mann bestatten ließ. Der Junge war bei der Überfahrt nach Italien ums Leben gekommen und war aus dem Wasser geborgen worden. Er hatte Italien tot erreicht, im Arm seiner trauernden Mutter.

„Man kann ja nie die Toten fragen, ob sie es würdig finden, wie mit ihnen umgegangen wird.“

Unzählige Tote im Meer, unzählige Gräber ohne Namen – alles andere als ein würdiges Ende, bringt die Religionswissenschaftlerin es auf den Punkt: „Man kann ja nie die Toten fragen, ob sie es würdig finden, wie mit ihnen umgegangen wird, aber man kann auf die Überlebenden schauen und schauen, ob das für sie würdig ist, und ob sie mit diesem Umgang auch selber gut weitermachen können mit ihrem Leben. Da muss man natürlich sagen nein, da besteht ein großer Bedarf an Veränderung und Verbesserung.“

Stauffacher sieht vor allem im Feld der Identifikation und Kommunikation mit den Angehörigen akuten Handlungsbedarf: „Die Toten müssten auffindbar werden, sie müssten besser und zentraler dokumentiert werden und die Angehörigen müssten überhaupt in Kenntnis gesetzt werden können. Und natürlich müsste sich ganz grundlegend verbessern, dass die Migrationsrouten so gestaltet werden, dass diese Leute nicht mehr auf diese Art und Weise ums Leben kommen.“

Das Sterben geht weiter

Hat sich hier, seit der dreijährige Alan Kurdi am 2. September 2015 verstarb, etwas geändert? Die Schaffung legaler und sicherer Migrationsrouten nach Europa ist weiter kein zentrales Thema der EU. Diese fokussiert sich eher auf die Bekämpfung illegaler Migration und auf Abschottung. Dafür schloss die EU umstrittene Abkommen, etwa mit der lybischen Küstenwache. Das Ergebnis: Wurden 2016 nur zwölf Prozent der illegalen Migranten am Mittelmeer aufgehalten, lag dieser Anteil heuer bei 41 Prozent. Das zeigen Daten der Internationalen Organisation für Migration. Die Todesfälle im Mittelmeer sanken seit 2016 deutlich, doch sicherer ist der Weg über das Mittelmeer nicht geworden: Ein Prozent der Migranten stirbt dabei. Für 1.559 Menschen endete die Hoffnung auf Europa im Mittelmeer allein heuer mit dem Tod, darunter dutzende Kinder. Die meisten von ihnen werden ohne Namen bleiben.

(vatican news)

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24. November 2021, 13:08