Ein Obdachloser unter einer Brücke Ein Obdachloser unter einer Brücke 

Österreich: Experten erwarten Anstieg der Obdachlosigkeit

Mehr als 21.000 Menschen in Österreich sind aktuell obdachlos und es werden wohl noch mehr werden. Das fürchten Experten, die sich jüngst in Wien auf Einladung der Österreichischen Ordenskonferenz zum Thema „Armut und Wohnungslosigkeit in Österreich" austauschten.

Unter dem Bibelspruch „Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen", trafen sich Fachleute aus den Bereichen Armutsbekämpfung, Ordensschwestern, die sich ganz der Hilfe für armutsbetroffene Menschen verschrieben haben, und Sozialarbeiter. Mit dabei war auch Susanne Peter, Sozialarbeiterin und Streetworkerin bei der Caritas Obdachlosen-Einrichtung „Gruft" in Wien:

„Es ist oft nicht nur ein Grund,  warum Menschen auf der Straße landen. Es sind sehr viele Schicksalsschläge, sehr vielfältige Ursachen, dass man das Leben, das wir gewohnt sind, nicht mehr führen kann. Gründe dafür sind etwa Jobverlust, Krankheit - ich kann mir die Miete nicht mehr leisten -  es sind wirklich unterschiedliche Dinge, wie man in solch eine Situation reinkommt."

Hier im Audio: Corona-Pandemie wird Anstieg der Obdachlosigkeit in Österreich bringen - so helfen Ordensfrauen

Es kann jeden treffen

Obdachlosigkeit kann jeden und jede treffen, betont die Expertin. Ganz gleich ob alt oder jung, gut ausgebildet oder nicht, ob arm oder aus guten finanziellen Verhältnissen. Viele Betroffene haben laut Streetworkerin Susanne Peter aber gemeinsam, dass sie in ihrer Jugend mit Gewalt und Missbrauch konfrontiert waren und es ihnen daher schwer fällt, Hilfe anzunehmen und Vertrauen zu schöpfen.

Besonders habe sie in den letzten Jahren bemerkt, dass die Zahl der obdachlosen Frauen steigt, auch wenn der Anteil an weiblichen Obdachlosen mit schätzungsweise 20 bis 30 Prozent immer noch unter jenem der Männer liege, so Peter. Wohnungslosigkeit bei Frauen sei viel öfter im Verborgenen. Weil sie sich schämen, haben betroffene Frauen auch oft Schwierigkeiten, Hilfe anzunehmen. So entsteht ein Teufelskreis: Viele der Frauen gehen lieber Zweckbeziehungen ein, um nicht auf der Straße leben zu müssen oder um Hilfe zu bitten. Durch diese Zweckbeziehungen geraten sie aber in Abhängigkeiten, „die oft mit Gewalt und Missbrauch einhergehen", so Peter.

Der Armutsforscher Martin Schenk, stellvertretender Direktor der Diakonie in Österreich, geht davon aus, dass die Zahl der Obdachlosen in Österreich durch die Coronakrise weiter steigen wird. Wie stark genau, sei zum sei zum jetzigen Zeitpunkt noch schwer auszumachen, wohl aber sei in den kommenden Jahren mit einem Anstieg zu rechnen:

„Wir werden zwischen 2023 und 2025 wahrscheinlich einen Anstieg erleben. Das hat damit zu tun, dass Armut und Ungleichheit immer zeitverzögert zwei, drei, vier Jahre nach Wirtschaftskrisen steigt“

„Aktuell sind an die 21.000 Menschen in Österreich obdachlos. Es wird nicht sofort steigen, wir werden eine Zeitverzögerung haben, nehme ich an - wir werden zwischen 2023 und 2025 wahrscheinlich einen Anstieg erleben. Das hat damit zu tun, dass Armut und Ungleichheit  immer zeitverzögert zwei, drei vier Jahre nach Wirtschaftskrisen steigt."

Schenk erinnerte hier etwa an die Finanzkrise von 2008, die sich erst ab dem Jahr 2012 massiv auf die Zahlen von Wohnungslosen ausgewirkt habe. Mit Blick auf die Corona-Pandemie sieht er daher Kürzungsvorhaben im Sozialbereich, die von der Politik derzeit ins Spiel gebracht werden, kritisch. Hier müsse dringend gegengesteuert werden. 

Die Coronakrise habe schon jetzt die Sozial- und Obachlosenarbeit vor enorme Herausforderungen gestellt - denn das Entscheidende für die Streetworker und für die Obdachlosen sei Nähe - und diese war von einem Tag auf den anderen nicht mehr möglich.

Ordensfrauen im Einsatz für Obdachlose

Die Sozialarbeiterin und Salvatorianerin Schwester Dominika Zelent berichtete von ihren Erfahrungen in einem Tageszentrum für wohnungslose Menschen am Wiener Praterstern. Dort seien zum großen Teil Männer aus Osteuropa, „die nach Österreich mit dem Traum auf ein besseres Leben kommen, oder die ihre Familie in der Heimat unterstützen wollen". Ohne Sprachkenntnisse und Meldeadresse zerplatze dieser Traum meistens sehr schnell. Was bleibe, sei ein „Leben auf der Straße, das psychisch und physisch krank macht", so die Ordensfrau.

„Den Menschen auf Augenhöhe entgegentreten, sie offen ansprechen und fragen, ob sie etwas brauchen“

Aus ihrer reichen Erfahrung mit geflüchteten Menschen berichtete Schwester Waltraud Irene von den Kleinen Schwestern Jesu. Mit Menschen am Rande der Gesellschaft in Kontakt kommen, mit den „einfachen Leuten sein", das entspreche dem Charisma ihrer Gemeinschaft. So setzt sich die Ordensfrau seit Jahren ehrenamtlich ein - etwa durch Hilfe bei Behördengängen, bei der Arbeitssuche oder beim Deutschlernen.

Schwester Irene wünscht sich ein gutes Leben für alle, egal welche Herkunft oder Religion jemand hat. „Den Menschen auf Augenhöhe entgegentreten, sie offen ansprechen und fragen, ob sie etwas brauchen", sei seit jeher ihre Herangehensweise und diese habe schon zu vielen tiefen Freundschaften geführt.

(kap - sst) 

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06. September 2021, 10:11