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D/Afghanistan: Laut Misereor gab es Zeichen vor einem Scheitern

Das katholische Hilfswerk Misereor hat nach eigenen Anagben schon früh vor einem Vormarsch der Taliban in Afghanistan gewarnt. Das Hilfswerk habe zu Zeiten, als es den Staat noch gab, bereits eine gute Regierungsführung angefordert. „Was wir jetzt erleben, ist Folge einer verfehlten Politik“, sagte die zuständige Länderreferentin Anna Dirksmeier am Dienstag in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

Die katholische Gemeinschaft Sant'Egidio fordert deshalb, Flüchtlinge aus Afghanistan über „humanitäre Korridore“ nach Europa zu bringen. Besonders die Europäische Union stehe da in der Pflicht, da sie viel von den Afghanen profitiert habe. Dazu haben unsere Kollegen vom Domradio mit Matthias Leineweber gesprochen. Er ist 2. Vorsitzender von Sant´Egidio.

Hier das Interview mit Matthias Leineweber von Sant´Egidio zum Nachhören

DOMRADIO.DE: Die Ereignisse in Afghanistan überschlagen sich, die Lage ist unübersichtlich. Nachdem die Taliban die Macht übernommen haben, hat die Bundesregierung angekündigt, 10.000 Menschen aus dem Land zu evakuieren. Auch wenn die Bedingungen mehr als schwierig sind, ist es notwendig, Menschenleben zu retten – und das könnte man mit humanitären Korridoren tun, fordern Sie. Was sind humanitäre Korridore?

Matthias Leineweber (2. Vorsitzender von Sant'Egidio): Es ist ein Projekt von Sant'Egidio und anderen Kirchen- und Nichtregierungs-Organisationen in verschiedenen europäischen Ländern, um Flüchtlinge aus Ländern, die sie aufgenommen haben, auf sicherem und legalem Weg nach Europa zu bringen, zum Beispiel aus dem Libanon syrische Flüchtlinge. Die können dann eben auch in Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden einreisen und werden in den europäischen Ländern bei der Integration begleitet.

DOMRADIO.DE: Wann oder wo hat so ein Korridor denn schon mal funktioniert?

Leineweber: Seit 2016 gibt es dieses Projekt. Angefangen hat es in Italien. Es gibt es jetzt auch in Frankreich, Belgien. Vor allen Dingen im Libanon, aber auch in Äthiopien hat es funktioniert. Das sind dann Flüchtlinge vom Horn von Afrika wie zum Beispiel aus Somalia oder dem Südsudan und Eritrea. Es läuft sehr gut, weil es auch eine große Bereitschaft in europäischen Ländern von Nichtregierungs-Organisationen, von Pfarreien, von Verbänden gibt, die bereit sind, diese Flüchtlinge mit aufzunehmen und bei der Integration zu begleiten.

Für den Staat ist das natürlich von Vorteil, wenn nicht unüberschaubare Massen kommen, die man dann schwierig unterbringen kann, sondern wenn das alles geregelt und auch legal ist und kontrolliert wird. Das bietet dieses Projekt.

DOMRADIO.DE: Wer müsste im Fall Afghanistan mitmachen, damit das funktioniert?

Leineweber: Ich denke, es wäre ganz wichtig, wenn die Europäische Union sich einigen könnte, ein gemeinsames Projekt auf die Beine zu stellen. Europa war sehr präsent in Afghanistan und hat auch eben durch die Unterstützung vieler Afghanen dort tätig sein können. Ich denke, wir sind es einfach den Freunden dort schuldig, dass wir sie jetzt nicht im Stich lassen.

Europa hat ja auch versucht, eine Alternative aufzubauen, eine andere Gesellschaft, ich denke da besonders auch an die Frauen. Viele Frauen, die dort jetzt in der Gesellschaft Verantwortung übernommen, ein Studium abgelegt haben, hoffen natürlich jetzt, dass sie ihr Leben auch weiter so führen können. Aber das geht natürlich dort nicht und deswegen brauchen sie eine Perspektive.

DOMRADIO.DE: Genau das hat ja Alice Schwarzer auch gerade gefordert. Frauen und Kinder sollten zuerst evakuiert werden, weil sie auch besonders gefährdet seien. Sehen Sie das auch so?

Leineweber: Sicherlich sind die Frauen sehr gefährdet. Wir kennen die Geschichte, wie sie gelebt haben. Sie hatten keine Möglichkeit, im öffentlichen Leben tätig zu sein, die Mädchen konnten keine Schule besuchen. Ich denke, wir sind es ihnen einfach auch schuldig. Wir haben so viele Hoffnungen für viele Frauen in den letzten 20 Jahren geweckt, sie aufzunehmen. Ich denke, es ist schwierig zu sagen, wer mehr Rechte und wer weniger Rechte hat.

Ich glaube, in Afghanistan sind im Moment sehr viele zumindest bedürftig und brauchen unsere Unterstützung. Auch die Signale, dass es ein Hoffnungszeichen gibt, wenn sie ins Nachbarland fliehen können, dass sie dann auch eine Perspektive haben, sind sehr wichtig. Ich denke, das sind wir ihnen einfach schuldig.

DOMRADIO.DE: Glauben Sie, dass es sich weiterhin so schlecht entwickelt, wie wir es in den letzten Tagen erfahren haben? Oder wie können wir gegensteuern?

Leineweber: Ich denke, eine Lektion können wir sicherlich aus diesen Tagen ziehen. 20 Jahre Krieg mit militärischen Mitteln, mit so vielen Waffen, mit Milliarden von Investitionen in Waffen, hat keine Lösung gebracht. Wir stehen eigentlich jetzt, wenn wir ehrlich sind, da, wo wir vor 20 Jahren gestanden haben. Wir brauchen eine Alternative. Wir brauchen eine Friedenspolitik. Wir brauchen Dialog, auch interreligiösen Dialog. Auch wenn das natürlich manchmal unbequem ist. Ich glaube, das ist etwas, was wir aus dieser Erfahrung lernen müssen.

Das Interview führte Katharina Geiger.

(domradio – mg)

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18. August 2021, 12:04