Prof. Wolfgang Treitler Prof. Wolfgang Treitler 

Theologe zu Marx: Chance für „neues Erzbischof-Dasein"?

Nach seinem vom Papst abgelehnten Rücktrittsgesuch könnte Kardinal Marx die Chance nutzen, in seinem Heimatbistum München-Freising „eine neue Praxis des Kardinal- und Erzbischof-Daseins“ zu etablieren. Dieses „Experiment“ schlägt der katholische Theologe Wolfgang Treitler im Interview mit Radio Vatikan vor. Treitler, der als Schüler selbst Missbrauch erlitt, sieht kirchliche Strukturen und Gewohnheiten durch die Missbrauchsverbrechen grundsätzlich in Frage gestellt.

Anne Preckel - Vatikanstadt

Eigentlich hätte sich der in Wien lehrende Fundamentaltheologe Wolfgang Treitler gewünscht, der Papst hätte Kardinal Marx‘ Rücktrittswillen entsprochen. Franziskus habe Gehorsam von Marx eingefordert, sozusagen von oben herab, so interpretiert Treitler Franziskus' Brief an den Kardinal. Doch dieses Gehorsamsgefüge in der katholischen Kirche stuft der Theologe mit Blick auf die Missbrauchsverbrechen als problematisch ein. Es sei eine Struktur, die „Leute in die Pflicht nimmt“ und letztlich keine Selbstbestimmung zulasse, so Treitler, der in seiner Jugend an einer katholischen Schule selbst Missbrauch durch einen Lehrer erlitten hat.

Chance für das Bischofs-Dasein

Dass Marx jetzt Erzbischof von München bleiben soll, begreift Treitler dann aber als „hochinteressante“ Chance für eine Ausübung des Bischofsamtes, bei der der Amtsträger „ungeschützt“ „an die Peripherie geht“ und sich den Zeugnissen Betroffener aussetzt - das wäre jedenfalls Treitlers Wunsch an Kardinal Marx ab jetzt in München: „Wenn er das macht, wenn er wirklich eine neue Praxis seines Kardinals- und seines Erzbischofs-Daseins zeigt, dann - würde ich sagen - kommt man produktiv aus dieser Sache heraus und macht auch wirklich etwas aus ihr“, urteilt Treitler.

Den Briefwechsel zwischen Kardinal und Papst hat Treitler als „Auseinandersetzung zweier Amtsträger“ gelesen – dass der Papst an dieser Stelle nicht explizit die Perspektive der Missbrauchsbetroffenen nannte oder auf Fragen der Gerechtigkeit für diese Opfer einging, kann Treitler schon nachvollziehen. Gleichwohl hätte er sich schon ein paar andere Worte mehr gewünscht:

„Dass der Papst von einer Katastrophe spricht, von einer massiven Krise, und eigentlich die Krise, die ich auch selbst erlebt habe und an der ich bis heute arbeite, nicht direkt angesprochen hat: nämlich, dass es um den Glauben an einen helfenden Gott, um den Glauben an eine Erlösung, die wirklich auch fühlbar wird, im Zusammenhang der Missbrauchsverbrechen sehr, sehr finster geworden ist…“

Prof. Wolfgang Treitler im Gespräch mit Radio Vatikan, hier das ganze Interview

Erlösung für die Betroffenen? 

In dieser theologischen Frage sei „eine wesentlich stärkere Krise oder Katastrophe am Zug als die Fragen der Verbrechensbearbeitung, der Aufarbeitung und der entsprechenden Folgen daraus“, findet Treitler: „Da kommt man wirklich an das Fundament, und das ist für mich deshalb wichtig, weil wir in der katholischen Kirche immer wieder diese Erlösungsreden haben, die eigentlich Woche für Woche rüberkommen, und man eigentlich kaum das wahrnimmt, was an katastrophaler Hilflosigkeit bei vielen Missbrauchten hängengeblieben ist, gerade in religiöser, in gottbezogener Hinsicht.”

Fruchtbar vertiefen ließen sich laut Treitler auch die Bitte des Papstes um die „Gnade der Scham" und die Erkenntnis von Heuchelei innerhalb der Kirche, einer Heuchelei, die es auch in der Sprache und im Auseinandergehen von Rede und Handeln zu reflektieren gelte. 

„Die Scham. dass Gott auf unseren Lippen gestorben ist...“

„Die Gnade der Scham kommt auch schon 2014 in Yad Vashem vor. Die Bitte darum, dass man sich schämt für das, was geschehen ist, schließt für mich nicht nur das moralische Verhältnis, das ich zu dem Missbrauch habe, ein, sondern es schließt auch die Scham darüber ein, wie wir eine religiöse Rede forciert haben, die den Effekt hat, dass Gott auf unseren Lippen gestorben ist. Und das ist für mich die entscheidende Krise, die in der Frage der Umkehr kaum noch bedacht ist und die aber für mich das Zentrum echter Umkehr wäre."

Mit Blick auf die Sackgasse, einen „toten Punkt", von dem Kardinal Marx mit Blick auf die Kirchenkrise gesprochen hat, kritisiert der Theologe im Interview mit Radio Vatikan eine Halbherzigkeit in der katholischen Kirche beim Versuch, echte Veränderungen auf den Weg zu bringen: „Diese Form der echten Umkehr, die substantiell erkennbar ist – ich sehe sie, dass man sie anzieht, aber ich sehe sie kaum in der Praxis verwirklicht oder angedeutet“, urteilt Treitler.

Nicht in eingeübter Form weitermachen

Um zu einer nachhaltigeren Erneuerung zu gelangen, bräuchte es ein grundlegenderes Ausscheren aus dem Gewohnten Sprechen und Tun, ja auch ein „Brechen der Verkehrsregeln, der institutioneller Regeln“, findet der Theologe. Er erläutert am Beispiel Marx, was das bedeuten könnte: „Was würde eigentlich geschehen, wenn nun Kardinal Marx sagt, ich habe meinen Rücktritt angeboten, er wurde nicht angenommen, ich vollziehe ihn aber jetzt. Was würde hier geschehen? (...) Ich glaube, dass solche Weigerungen mal sehr heilsam wären, um einmal zu sehen, dass man diese Dinge nicht in geübter Form weiterlaufen lassen kann, sondern dass es hier wirklich Zäsuren und radikales Umkehren braucht.“

Die innere Umkehr, die im Kontext der Kirchenkrise immer wieder gefordert wird, hält der Theologe nur in Kombination mit auch äußerlich sichtbaren Zeichen und Veränderungen für wirksam. Dann werde die Botschaft des Papstes in dieser Frage auch verstanden vom Kirchenvolk, ist Treitler überzeugt:

„Ist die innere Umkehr, die angesprochen wird, auch äußerlich sichtbar?“

„Ich hoffe, dass sie verstanden wird, wenn die innere Umkehr durch eine äußere sichtbare Umkehr und Abkehr geimpft wird. Das ist eine alte Geschichte - die reine Innerlichkeit bringt nichts, wir haben das ja auch im Bereich der Erlösungsdiskurse: Eine seelische Erlösung hilft mir in meiner fleischlichen Drangsal nicht, das wissen Missbrauchsopfer sehr genau. Und das ist für mich wirklich der entscheidende Punkt: Ist die innere Umkehr, die angesprochen wird, auch äußerlich sichtbar? Da geht’s nicht um Heuchelei und Darstellung, sondern da geht’s um nichts anderes als - wenn ich das jetzt mal christlich beinhart sage - die Inkarnation in meinem Fleisch dessen, was ich als Gesinnung lebe. Wenn Umkehr eine innere Gesinnung ist, dann muss das auch äußerlich institutionell kenntlich werden. Dann ist das auch, glaube ich, etwas, das von den Missbrauchsopfern anerkannt werden kann. Sonst, fürchte ich, bleibt es auf halbem Wege hängen."

Im Interview mit Radio Vatikan beleuchtet Prof. Treitler auch das Thema Kollegialität und Synodalität in der Kirche aus theologischer Sicht und äußert sich zum Synodalen Weg in Deutschland. Das ganze Interview hören Sie durch Anklicken des Audio-Files mittig oben. Die Fragen stellte Anne Preckel. 

(vatican news)

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15. Juni 2021, 10:38