Unser Sonntag: Verrückt genug, „um Gott zu lernen“?

Bischof Hermann Glettler macht in dieser Betrachtung deutlich, dass es durch die Bildung der neuen Gemeinschaft um Jesus zu Verwerfungen kommt. Jesus stellt sich dieser Tatsache und nimmt nichts von der Radikalität seiner Botschaft zurück – mit radikaler Offenheit für alle. Sollte nicht auch die Kirche in der Schule Jesu jedes kleinkarierte Ausgrenzen vermeiden?

Bischof Hermann Glettler

Mk 3,20-35 

Lesejahr B

In der Pandemie haben wir den unersetzbaren Wert von Familie neu entdeckt – die ganz selbstverständliche Sehnsucht nach Schutz, Geborgenheit und Zugehörigkeit hat dies bewirkt. Familie ist Sehnsuchtsort und harte Realität zugleich. Sie bietet die ganz große Palette menschlicher Sorgen, Freuden und alltäglicher Verrücktheiten – Familie ist der Raum, wo sich ein Mensch entfalten, aber auch in seiner Entwicklung behindert werden kann.

Hier zum Nachhören

Familien sind die wichtigsten Lernorte sozialer Verantwortung, aber zugleich auch jene Orte, wo Entfremdungen und Brüche am meisten wehtun. Heilsames und Erstarrtes am gleichen Fleck. Gerade dieses realistische Erscheinungsbild ist brauchbar, um Kirche zu verstehen – als „Familie Jesu“. In ihrer Mitte ist Jesus, von dem die eigene Verwandtschaft im heutigen Evangelium unvorteilhaft behauptet: „Er ist von Sinnen.“ Mit einer familiären Heimholaktion wollten sie ihn domestizieren. Erfolglos. An Jesus scheiden sich die Geister.

Die verrückte Entscheidung

Es ist aufgrund der Worte Jesu nicht sofort klar, wer zu seiner neuen Gemeinschaft gehört und wer nicht. Gewohnte, institutionalisierte Strukturen zählen nicht. Jesus gründet seine Familie weder auf Blutsverwandtschaft, noch auf Brauchtum oder Folklore. Jene, die den Willen Gottes tun, sind für ihn Bruder, Schwester und Mutter. Das provoziert – damals und heute. Ich denke an ein junges Paar aus dem Iran, das nach Österreich kam, um ein postgraduales Technik-Studium zu absolvieren. Ihr eigentliches Interesse galt jedoch dem christlichen Glauben, mit dem sie im islamistisch geführten Staat durch armenische Familien in Berührung kamen. Heimlich musste ich ihnen Taufunterricht geben. Aber Social-Media-Postings verrieten sie, was zur Folge hatte, dass ihr Onkel im Iran „zufällig“ in einen fast tödlichen Unfall verwickelt wurde – eine klare Warnung. Verängstigt versuchten ihre Eltern daraufhin, den Weg des jungen Paares hin zur Taufe zu stoppen. Aber vergeblich. Die beiden Katechumenen erklärten mir, sie hätten ihre Herzens-Entscheidung für ein Leben mit Jesus schon getroffen. Berührend verrückt!

„Wir glauben an Jesus, weil er auf Gewalt verzichtet hat. Er hat seine Ideen, seinen Glauben, sein Programm nicht mit dem Schwert durchgesetzt“

Die Begründung ihres Entschlusses hat mich außerordentlich bewegt. Sie lautete: „Wir glauben an Jesus, weil er auf Gewalt verzichtet hat. Er hat seine Ideen, seinen Glauben, sein Programm nicht mit dem Schwert durchgesetzt. In ihm sehen wir nur Liebe – pure Love.“ Wir haben uns auf Englisch unterhalten. Im Grunde hat dieses Paar, das erst auf dem Weg zum Christsein war, das Wesentliche bereits erfasst: Jesus hat die Logik der Vergeltung und des Hasses durchbrochen. Er ist die Vergebung Gottes in Menschengestalt. Seine geistvolle Verrücktheit ermöglicht neues Leben. „Ecce Homo!“ So wehrlos stand er da, von Pilatus dem aufgehetzten Volk vorgeführt. Seht, der Mensch! All das kann ein Mensch dem Menschen antun. Der britische Künstler Mark Wallinger hat eine Skulptur geschaffen, die durch ihre Natürlichkeit, Schönheit und Wehrlosigkeit berührt. Entstanden ist die Skulptur für ein leer stehendes Postament am Trafalgar Square in London. Wallinger hat sich für die Jesus-Gestalt entschieden, da für ihn gegenwärtig keine andere Figur mehr Peinlichkeit und Aufregung – und zugleich Faszination erzeugt. Ziemlich verrückt, nicht wahr? Wir zeigen dieses Kunstwerk im Zuge einer Ausstellung zum 500. Geburtstags unseres Diözesanpatrons Petrus Canisius.


Die verrückte Familie

Nicht nur der Familienclan tat sich mit Jesus schwer. Der Vorwurf der Gesetzeslehrer war noch massiver. Von Jerusalem, der religiösen Hochburg kommend, stellen sie die gefährlichste aller theologischen Diagnosen: Jesus arbeitet mit dem Teufel, dem hässlichen „Herrn der Fliegen“ zusammen. Jesus versucht eine mühsame Entgegnung, aber vermutlich erfolglos. Durch die Bildung der neuen Gemeinschaft kommt es zu Verwerfungen. Jesus stellt sich dieser Tatsache, hält es aus, dass einige weggehen, appelliert an die Freiheit des einzelnen, aber nimmt nichts von der Radikalität seiner Botschaft zurück – und zugleich vertritt er eine radikale Offenheit für alle, die mit ihrer Lebenslast, ihrem Versagen und Unvermögen zu ihm kommen. Drinnen und draußen, innerer und äußerer Kreis. Wer gehört denn wirklich dazu? Sollten wir als Kirche in der Schule Jesu nicht in erster Linie heilsame Zugehörigkeit ermöglichen – und jedes kleinkarierte Ausgrenzen vermeiden? Kirche ist doch kein Verein unter Vereinen, keine exklusive Clique. Leider machen viele Menschen auch gegenteilige Erfahrungen. Es wird ihnen signalisiert, dass sie nicht mehr dazugehören. Sollten wir nicht in „verrückter“ Leidenschaft für die Menschen von heute die Türen ganz weit aufmachen?

„„Ecce Homo!“ So ergeht es unzähligen Menschen, die sich und anderen fremd geworden sind, an einer Beeinträchtigung leiden oder sich schuldig gemacht haben.“


„Mädel, wenn Du uns das antust, dann fliegst Du raus!“ Eine junge Drogensüchtige kommt am Heiligen Abend in unser Caritashaus und lässt ihrer Anspannung freien Lauf: „Ich halte den Stress zu Hause nicht mehr aus.“ Ihre Not hat mich getroffen. Ich dachte zuerst an den Stress ihrer Familie, die vermutlich mit dem verstörenden Verhalten der suchtkranken Tochter nicht zurechtkam. Dann habe ich versucht, hinein-zu-fühlen, wie oft sie wohl erleben musste, nicht mehr dazuzugehören, heimatlos zu sein. „Ecce Homo!“ So ergeht es unzähligen Menschen, die sich und anderen fremd geworden sind, an einer Beeinträchtigung leiden oder sich schuldig gemacht haben. Auch ganz „normale Familien“ sind extrem gefordert – wer wünscht sich denn nicht gelingende Beziehungen und gleichzeitig tun wir uns so schwer mit Kränkungen und uralten Verletzungen. Es ist nicht leicht, neu miteinander zu beginnen – obwohl wir wissen, dass wir alle nicht perfekt sind. Bräuchten wir nicht öfter etwas mehr geistvolle Verrücktheit, damit der Geist Gottes Neues ermöglichen kann?

Der verrückte Glaube

Wenn ich über die weltweite Mission unserer Kirche, im besten Sinn „verrückte“ Familie Jesu nachdenke, fällt mir die Anekdote eines befreundeten Diakons ein. Bei einer Tauffeier hat er nach den Fürbitten, die von der Familie vorbereitet wurden und vor allem das Wohlergehen und Allerbeste für das Taufkind beschworen haben, angefügt, dass er auch für unsere Verwandten auf den Philippinen beten möchte. Verwunderung in der Gemeinschaft. Beim Taufessen wurde er nach dem Hintergrund dieser Bitte gefragt. Der Diakon erklärte daraufhin der Taufgesellschaft, dass wir als Getaufte durch die Verbundenheit mit Jesus überall auf der Welt Schwestern und Brüder haben, „echte Verwandte in der Familie Jesu“. Diese Erklärung deckt sich mit der beeindruckenden Ansage von „Fratelli tutti“, worin uns Papst Franziskus bittet, eine neue globale Geschwisterlichkeit mit Herz und Geist zu leben – in einer zerrissenen Welt über alle nationalen Grenzen hinweg.

In der Arbeit mit Flüchtlingen "Gott lernen"

„In der Arbeit mit Flüchtlingen haben wir Gott gelernt.“ Diese Aussage eines Ehepaars, das auf der Insel Lesbos ihre Taverne aufgegeben hat, um rund um die Uhr für Schutzsuchende da zu sein, hat mich tief bewegt. Sie haben durch das Zubereiten spezieller Nahrung für die besonders vulnerablen Gruppen im schrecklichen Flüchtlingslager unendlich viel Gutes getan. Mit diesem konkreten Tun haben sie ihren Glauben und Gott neu entdeckt. „We learned God.“ Ganz verrückt. Es gehört zur Qualität einer Familie, Differenzen zu dulden und trotz unterschiedlicher Meinungen füreinander da zu sein. Der Schlüssel, damit dies in der kleinen Familie, in der Menschheitsfamilie und in der Kirche tatsächlich funktioniert, ist der Geist der Nicht-Verurteilung.

„Petrus Canisius: An niemandem darf man verzweifeln!“

Gelebte Barmherzigkeit ist gefragt. Das meint keine billige Harmonisierung, aber sehr wohl ein tieferes Verständnis füreinander. Es wäre ja tatsächlich eine Sünde gegen den Heiligen Geist, an Gottes Barmherzigkeit nicht zu glauben. Petrus Canisius hat bereits als Student unter einer Kreuzdarstellung den Merksatz notiert: „An niemandem darf man verzweifeln!“ Auch nicht an sich selbst oder an der Kirche – füge ich hinzu.
Abschluss: Sind wir also verrückt genug, um dem verrückten Meister Jesus zu folgen? Vielleicht ist es notwendig, mehr von seinem Geist aufzunehmen und uns von ihm leiten zu lassen. Ein verrücktes Leben im Sinne des Evangeliums macht Sinn!

(radio vatican - claudia kaminski / Mark Wallinger, ECCE HOMO, Dom zu Innsbruck)

 

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05. Juni 2021, 11:00