Kinder in Deutschland in Zeiten von Corona Kinder in Deutschland in Zeiten von Corona 

D: Kinderrechte nicht im Grundgesetz verankert

Nicht mehr in dieser Legislaturperiode: Das Vohaben der Großen Koalition, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern, ist vorerst vom Tisch. Die Vizepräsidentin des Deutschen Kinderhilfswerks, Anne Lütkes, kann darüber nur den Kopf schütteln. Unsere Kollegen vom Kölner Domradio sprachen mit ihr.

DOMRADIO.DE: Was ist so schwer daran, ins Grundgesetz zu schreiben, dass die Kleinsten unserer Gesellschaft eines besonderen Schutzes bedürfen und dieser zu gewährleisten ist?

Anne Lütkes (Vizepräsidentin des Deutschen Kinderhilfswerks): Das frage ich mich mittlerweile auch. Denn man müsste "einfach" nur in unsere Verfassung, unser höchstes Recht ordentlich reinschreiben, dass Kinder ein eigenes Recht darauf haben, gehört zu werden, gefördert zu werden und einen Anspruch auf Schutz und Entwicklung zu haben.

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Das Hochkomplizierte für den Staat und für viele im Bundestag ist dabei, dass sich der Staat bei allem, was er tut, verpflichtet, Kinder vorrangig zu beachten. Das heißt nicht, dass immer nur die Kinder vorne stehen und alle anderen hinten runterfallen. Aber es heißt, dass man immer darüber nachdenkt, was es bedeutet, was der Staat für Kinder und deren Leben und deren Entwicklung tut.

DOMRADIO.DE: Wo liegen denn dann die Konflikte? Warum ist es trotzdem so schwer?

Lütkes: Wir sind in einem Aktionsbündnis zusammengeschlossen. Eigentlich alle großen Kinderrechtsorganisationen in Deutschland haben sich zusammengetan, um für dieses Vorhaben zu kämpfen.

Aber auf der anderen Seite glauben viele Menschen und insbesondere Politiker, dass, wenn man in das Grundgesetz hineinschreibt, dass Kinder Grundrechtsträger, also eigenständige Persönlichkeiten sind, die Eltern dann nicht mehr mit ihren Kindern zusammenleben können. Man glaubt, dass die Eltern eingeschränkt werden und dass es den Staat zu viel Geld kostet.

Es sind Vorbehalte, die aber vorgeschoben sind, die so nicht im Interesse der Kinder sind und die auch am Ende des Tages unverständlich sind. Denn das, was wir und was die UN-Kinderrechtskonvention will, ist, dass man akzeptiert, dass Kinder eben keine Erwachsenen sind und sie ihre Rechte auch gar nicht eigenständig einklagen können. Sie müssen aber ihre Rechte leben dürfen und beteiligt werden. Man muss Demokratie sehr früh durch eine ordentliche Beteiligung lernen, wie die UN-Kinderrechtskonvention das ja auch möchte.

DOMRADIO.DE: In der Kinderrechtskonvention steht eigentlich alles drin, was Kinder zum Glücklichsein brauchen. Wozu gibt es dann noch die Diskussion um diese Grundgesetzänderung? Was würde sich ändern?

Lütkes: Es würde sich sowas wie ein Paradigmenwechsel ergeben. Dieses Grundgesetz ist ja mehr als ein einfaches Gesetz. Ich als Juristin sage, es hat Signalkraft. Es ist die Grundlage all unseres juristischen, aber auch unseres täglichen Denkens.

Wenn Sie mal eine Umfrage in Deutschland machen, wer denn eigentlich die UN-Kinderrechtskonvention kennt, dann ist das Ergebnis enttäuschend. Richter und Richterinnen zum Beispiel kennen ganz oft die UN-Kinderrechtskonvention nicht. Wenn sie im Grundgesetz verankert wäre, wäre das sowas wie ein Anwendungsbefehl. Es würde bedeuten: Du musst es beachten.

Das gilt dann auch egal, ob das im Ausländerrecht ist, wenn ein Kind Asyl beantragt oder ob das im Familienrecht ist oder beispielsweise im Baurecht, wenn es darum geht, wie eine Verkehrsführung gestaltet wird. Kinderrechte im Alltag sind oft sehr banal, aber sehr durchschlagend. Und darum geht es, Kindern die alltägliche Geltung zu verschaffen.

DOMRADIO.DE: Inwieweit hat die Pandemie den Blick auf Kinderrechte noch mal verändert?

Lütkes: Zu Beginn der Pandemie haben wir sehr schnell feststellen müssen, dass die Kinderrechte überhaupt nicht im Blick waren. Die Kinder sind bei den Entscheidungen schlicht unbeachtet geblieben, wenn man an die Entwicklung des Homeschoolings denkt oder wie schnell die Spielplätze geschlossen wurden während die Großraumbüros geöffnet blieben.

Wir müssen schauen, was die Pandemie mit den Kindern und ihrer Alltäglichkeit macht. Dieser Gedanke hat anderthalb Jahre gebraucht, bis er in den Köpfen der Gestaltenden, der Verantwortlichen angekommen ist. Wenn die Kinderrechte bereits im Grundgesetz gestanden hätten, wäre diese Anwendungsverpflichtung vielleicht schon bei den Handelnden angekommen und wir hätten eine sehr viel andere Gestaltung der Corona-Pandemie erleben können.

Das Kindeswohl zu beachten, muss man ja auch als Verwaltungsmitarbeiter, nicht nur als Jugendamtsmitarbeiter, aber auch als Jugendamtsmitarbeiter lernen.

DOMRADIO.DE: Es herrscht nun der Zustand, dass es Vorschläge, Anträge, Entwürfe zum Thema Kinderrechte ins Grundgesetz gibt. Die aktuelle Koalition hat sich nicht auf so eine Verfassungsänderung einigen können. Was denken Sie, wie dieses Thema jetzt politisch weitergeht?

Lütkes: Ich glaube und hoffe sehr, dass es sachlich bleibt und dass das ein Wahlkampfthema sein wird. Das Aktionsbündnis wird natürlich nicht aufgeben, da sind UNICEF, das Deutsche Kinderhilfswerk und der Kinderschutzbund dabei.

Wir werden massiv dafür werben, dass alle demokratischen Parteien für die Kinderrechte kämpfen werden. Mit der AfD sprechen wir allerdings nicht. Und wir sagen schon jetzt, egal wer die Koalitionsverhandlungen führt, dass sich diejenigen sicher mit dieser Frage der Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz auseinandersetzen müssen.

Denn es ist ja nicht banal. Es ist ja nicht einfach mal so eine Forderung, sondern das ist eine internationale Verpflichtung, die Deutschland dadurch, dass die UN-Kinderrechtskonvention anerkannt und unterschrieben worden ist, auch als Verpflichtung übernommen hat. Das muss dieses Land als großer wirtschaftlicher OECD-Staat einlösen.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.

(domradio – mg)

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10. Juni 2021, 09:55