Kardinal Gerhard Ludwig Muller Kardinal Gerhard Ludwig Muller 

Kardinal Müller: „Georg Ratzinger war ein zutiefst ehrlicher Mensch“

Der frühere Regensburger Bischof und emeritierte Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Gerhard Müller, hat für Vatican News seine persönlichen Erinnerungen an den verstorbenen Bruder des emeritierten Papstes Benedikt XVI., Georg Ratzinger, verfasst. Hier lesen Sie das Statement von Kardinal Müller:
Zum Nachhören

Seit ich im November 2002 Bischof von Regensburg wurde, kenne ich Domkapellmeister Georg Ratzinger auch persönlich sehr gut. Oft war er bei mir im Bischofshaus zu Gast und ebenso oft habe ich ihn zu verschiedenen Gelegenheiten in seiner Wohnung besucht.  Zuletzt sahen wir uns in Rom  bei seinem Bruder Josef, unserem Papa emeritus Benedikt XVI. Anfang diesen Jahres. Aus diesen Begegnungen und  Erfahrungen habe ich diese Überzeugung gewonnen: Georg Ratzinger war ein zutiefst ehrlicher Mensch, ein überzeugter Christ, ein verständnisvoller Seelsorger und ein genialer Künstler, dem die Musik nicht selbst-bezogene Unterhaltung, sondern Gottesverehrung war. Im der Musica sacra wird das Herz mit  der Freude des Erlöstseins erfüllt und der Geist zu den Geheimnissen Gottes erhoben. Der Mensch wächst über die Enge der Kontingenz hinaus und er begegnet in Glaube, Hoffnung und Liebe Gott seinem Schöpfer, Erlöser und Vollender. Das Tiefgründigste, was zur „Theologie der Kirchenmusik“ in jüngster Zeit geschrieben wurde, stammt von seinem Bruder Joseph Ratzinger und ist im 11. Band seiner Gesammelten Schriften veröffentlicht.

Der Glaube Georg Ratzingers musste sich in schwersten Zeiten bewähren. Als er 9 Jahre alt war, kam Hitler in Deutschland an die Macht. In der frischen Jugendzeit, wenn der Geist sich in seinen dogmatischen und moralischen Grundüberzeugungen entwickelt,  musste er lernen, sich  dem Sog der totalitären Ideologie zu entziehen, die ein ganzes Volk und die Welt in den Abgrund des Weltkriegs und des Völkermords stürzte. Die Freiheit eines Christenmenschen und die Wahrheit des geoffenbarten Glaubens werden uns nicht in den Schoß gelegt. Nur im Vertrauen auf Gottes Gnade und mit der Bereitschaft, Jesus auch in Leiden und Verfolgung treu zu bleiben, kann der Christ in einer Zeit bestehen, für die Gott höchstenfalls eine Metapher im Widerschein der Selbstspiegelung ist.

Den längsten Abschnitt seiner beruflichen Tätigkeit hat Georg Ratzinger von 1964-1994 dem Regensburger Kathedral-Chor gewidmet, die volkstümlich auch die „Regensburger Domspatzen“ genannt werden. Diesen Knabenchor, der auf eine Gründung des hl. Wolfgang im Jahr 975 zurückgeht, konnte Georg Ratzinger durch seine musikalische Kompetenz und seine hervorragende Fähigkeit, mit jungen Menschen gütig und standfest umzugehen, auch mit großen Konzertreisen ins Ausland, zum Weltruhm führen. Er kannte die meisten seiner Buben noch Jahrzehnte nach dem Ende ihrer Domspatzenkarriere beim Namen. Und sie erwiesen ihm ihre anhängliche Dankbarkeit bis in sein hohes Alter. Es war für ihn eine starke Belastung, dass er als fast 90-jähriger Mann bezichtigt wurde, seiner Verantwortung angesichts von erzieherischen Übergriffen einzelner Mitarbeiter oder sogar von pädokriminellen Vergehen nicht nachgekommen zu sein. Mit der Behauptung, dass diese Untaten „systemisch“ bedingt gewesen seien, wurde der Eindruck erweckt, die Menschenwürde und das Wohl der jungen Sänger, sei auf dem Altar des Ruhms des Chores und des Glanzes des Domkapellmeisters geopfert worden. Wer aber die Bekenntnisse von vielen Beteiligten kennt und wer wie ich selbst Georg Ratzinger persönlich seit 18 Jahren gut kennt, der weiß, dass sich bei ihm die Orientierung an der musikalischen Leistung und die persönliche Zuwendung zu den jungen Menschen wechselseitig bedingen.  Es ist nur beschämend für unsere Zeit, dass einige  von falschen Mediendarstellungen aufgehetzte Passanten, den alten Domkapellmeister im Rollstuhl auf der Straße anpöbelten. All das kann seine Lebensleistung als Leiter eines in der ersten Liga spielenden Knabenchöre und als milder und zugleich strenger väterlicher Freund „seiner Buben“ auch über ihre Jugendzeit hinaus nicht mindern oder eintrüben.

Gott möge ihm ein gnädiger Richter sein und in uns das Gefühl der Dankbarkeit wecken für alles, was er als treuer Diener der Kirche für den Aufbau Seines Reiches getan hat.

 Gerhard Card. Müller, Roma

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02. Juli 2020, 11:12