Ludwig Waldmüller Ludwig Waldmüller 

Unser Sonntag: „Ein Evangelium zum Graben“

Pfarrer Ludwig Waldmüller (Memmingen) erläutert für uns diesmal einen Schlüsseltext des Neuen Testaments: die Bergpredigt Jesu. Sind die Ansprüche des Herrn zu hoch? Oder geht es in Wirklichkeit darum, stärker in die Tiefe zu gehen?

Pfarrer Ludwig Waldmüller

Mt 5, 17–37


Liebe Hörerin, lieber Hörer,

kennen Sie das, dass einen ein Traum seit vielen Jahren begleitet? Also, ich meine jetzt nicht einen Traum, den man nachts immer wieder vor Augen hat und der einem immer wieder den Schlaf raubt oder so. Nein. Ich meine, dass es so Träume gibt, das eine oder andere einmal tun zu dürfen. Zu erleben. Und dass solche Träume einen oft sehr lange begleiten. Für mich gibt es da solche. Einer davon, der wirklich schon seit Kindertagen in meinem Kopf herumspukt und der mich seit der Zeit meines Studiums noch immer intensiver begleitet, ist der, einmal bei einer archäologischen Grabung dabei zu sein. Ich weiß schon, dass ich da vor allem ein sehr romantisches Bild davon habe. Und dass das vor allem etwas sehr Mühsames, oft von wenig Erfolg gekröntes Unterfangen ist. Aber irgendwie lässt mich die Faszination dieses Gedankens nicht los. Dem Erdreich seine Geheimnisse zu entlocken. Immer tiefer und tiefer hinein zu gelangen, um irgendwann einen sensationellen Fund zu machen. Die eine Scherbe, den besonderen Mosaikfußboden oder die bestimmte Münze zu finden, um damit etwas Großes zu belegen. Wenn ich in Vorlesungen in Archäologie saß, was ich sehr gerne gemacht habe, dann habe ich immer den Wunsch gehabt, das auch einmal tun zu dürfen. Bis heute ist es nicht Wirklichkeit geworden. Aber wer weiß – Träume darf man ja haben, oder? Das Graben und Suchen, das tiefer Hineintauchen in etwas, was oberflächlich ganz anders aussieht, das ist es, was mich wirklich lockt und fasziniert.

Mein Leben ist weit weg vom Ideal, das Jesus predigt

Wie ich darauf komme, fragen Sie sich vielleicht. Nun, das heutige Evangelium hat für mich viel von einer Grabung. Oder besser, es fordert mich auf, zu graben. Tiefer zu schauen, weiter zu suchen. Und eben nicht an der Oberfläche zu bleiben. Die Worte Jesu aus der Bergpredigt, die an diesem Sonntag in unseren Kirchen vorgelesen werden, sind für mich oft verstörend. Radikal. Eine große Herausforderung. Und, das muss ich bekennen, Quelle für sehr schlechtes Gewissen. Wie oft ist mein Leben genau nicht so, wie es da von Jesus in den klaren Worten des Matthäusevangeliums gefordert wird. Im Gegenteil. Da ist so vieles, was mich stutzen lässt. So vieles, von dem ich mir denke: Genau. Da hast du schon wieder daneben gelangt. Und es fallen mir ganz viele Dinge ein, die mir erzählen, dass mein Leben weit weg ist vom Ideal, das Jesus predigt. Ich habe schon fast die Versuchung, es sein zu lassen. „Da komme ich doch sowieso nie hin, also muss es erst gar nicht probieren.“ Das ist das Eine, das mir durch den Kopf geht. Und zum anderen denke ich mir, der Anspruch Jesu ist vielleicht zu hoch. Weit über der normalen menschlichen Lebenswirklichkeit. Oder ist es vielleicht doch anders? Sehen Sie, und deshalb meine ich, es ist ein Evangelium zum Graben. Weil es darum geht, tiefer hinein zu schauen: In den Text des Evangeliums, ins eigene Leben und in den Anspruch, den wir für uns selbst und andere haben.

Zum Nachhören

Jesu Worte fordern zum Graben auf – zu größerer Tiefe. Oder besser: Zu einer tiefen Gerechtigkeit. Da sagt Jesus doch: „Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich.

Die tiefere Gerechtigkeit

„Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Größere Gerechtigkeit – ich glaube, man das gut „tiefere Gerechtigkeit“ nennen. Denn was ist denn die Gerechtigkeit von Pharisäern und Schriftgelehrten? Diese beiden Gruppen sind vorbildliche Profis in der jüdischen Religion. Sie kennen sich aus mit der Heiligen Schrift, wissen genau, was drin steht. Und sie kennen alle Gebote und Verbote, die das Wort Gottes den Menschen zu bieten hat. Sie halten sich daran. Immer wieder wird im Evangelium erzählt, dass den Pharisäern das Einhalten der Vorschriften der Tora bis ins Kleinste ganz wichtig ist. Jeder Buchstabe des Gesetzes muss erfüllt werden – und wird erfüllt. Aber: Das bleibt eben oft an der Oberfläche. Man kann ganz viele Vorschriften erfüllen, sich genau an Gesetze halten, alles so machen, wie es vorgeschrieben ist – und doch sieht es unten drunter ganz anders aus. Das, glaube ich, meint Jesus. Es geht nicht nur darum, die einzelnen Vorschriften genau gehalten zu haben. Es geht nicht darum, nach Manier des guten deutschen Beamten jede noch so kleine Anweisung geflissentlich zu beachten. Sondern es geht darum, dass in der Tiefe die Haltung der Gerechtigkeit wahr ist. Gerechtigkeit ist in der Bibel oft ein Begriff für das richtige Leben; „dieser war ein Gerechter“ meint: Das ist jemand, dessen Leben ganz nach der Vorstellung Gottes ist. Und das ist eben nicht nur einer, der außen herum alle Gebote richtig einhält, sondern jemand, der wirklich vom Leben mit Gott und für Gott durchdrungen ist. So wird die Gerechtigkeit weit größer als die von Pharisäern und Schriftgelehrten. Wer zum Beispiel die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Straße beim Autofahren einhält, weil er nicht von einer Radarfalle geblitzt und mit dem entsprechenden Bußgeld belegt werden will, handelt richtig. Er hält sich genau an die Vorschriften. Auch wenn er lieber rasen würde und sich und sein Auto nur schwer zügeln kann. Wer die Geschwindigkeitsbegrenzung aber einhält, weil er sich und andere nicht gefährden will, weil er einfach von Grund auf verstanden hat, dass diese Regel etwas Gutes meint und bewirken will, ist viel tiefer in die Gerechtigkeit vorgedrungen. Und ich glaube, genau das gilt für so viele Bereiche unseres Lebens. Mir geht es so, dass mich die tiefere – oder größere – Gerechtigkeit, die Jesus fordert, wirklich nachdenken lässt. Da hab ich noch ganz schön viel zu lernen und zu verändern…

„Die Forderung Jesu in diesem Evangelium ist wirklich eine radikale; und genau deshalb ist sie zum einen sehr sympathisch, zum anderen unbeschreiblich schwer“

Das Evangelium fordert zum tiefer Graben auf, wie ich meine. Und das auf verschiedene Art und Weise. Jesus fordert nämlich auch eine tiefere Ehrlichkeit. Eine Ehrlichkeit zu sich selbst und Gott gegenüber. Das wird für mich in dem Text aus der Bergpredigt vor allem in einem Satz sehr deutlich: „Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe.“ Hier geht es ja um etwas absolut Unsichtbares und irgendwie – Geheimes. Wer zum Opfern, also zur direkten Beziehung mit Gott kommt, muss sich ganz ehrlich mit sich selbst und seinen Beziehungen zu den Mitmenschen auseinander setzen. Das fordert wirklich eine tiefe Ehrlichkeit. Wie sehr muss da derjenige, der zum Opfern kommt, tief hinein schauen in sich selbst. Muss erkennen, was los ist – und ehrlich handeln. Dass jemand mit einem anderen irgendwie in Streit liegt, dass der andere etwas gegen ihn haben könnte, das ist ja oft für niemanden anderen sichtbar. Das weiß ich nur selbst. Und nur meine ganz eigene und tiefe Ehrlichkeit zu mir und über mein Leben wird mich da zum Nachdenken und letztlich zur Versöhnung bringen. Auch da geht mir so einiges durch den Kopf, was ich bei mir wirklich zu verändern hätte. Und es fallen mir Personen ein, mit denen ich vielleicht wirklich an Versöhnung arbeiten müsste. Nicht müsste. Muss. Die Forderung Jesu in diesem Evangelium ist wirklich eine radikale; und genau deshalb ist sie zum einen sehr sympathisch, zum anderen unbeschreiblich schwer. Wie oft sind wir eben zu uns selbst überhaupt nicht ehrlich; machen uns was vor, reden uns Dinge ein, die eben nicht stimmen – und im Zweifelsfall diskutieren wir vor uns selbst weg, dass da einer etwas gegen uns haben könnte. Für mich ist das Wort von der Opfergabe, die man liegen lassen muss, echt eine Gewissenserforschung.

Ein Aufruf zu klarer Entschiedenheit

Aber noch einmal: Das Evangelium fordert zur Tiefe, zum Graben auf. Und das erscheint mir ganz deutlich in dem Satz: „Schwört überhaupt nicht, weder beim Himmel, denn er ist Gottes Thron, noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel für seine Füße, noch bei Jerusalem, denn es ist die Stadt des großen Königs. Auch bei deinem Haupt sollst du nicht schwören; denn du kannst kein einziges Haar weiß oder schwarz machen. Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere stammt vom Bösen.“ Hier geht es nämlich um die Tiefe von Entscheidungen und von Entschiedenheit. Und schon wieder ist das für mich eine echte Ohrfeige. Wie oft ist es doch so, dass unser „Ja“ eben doch keines ist, und unser „Nein“ genauso wenig trägt. Wie viele Hintertüren halte ich mir oft offen bei Entscheidungen, und wie viele „Abers“, „Vielleichts“ und „Najas“ gehören zu meinem Ja oder meinem Nein. Sowas merkt man oft auch erst hinterher, wenn man am eigenen Ja oder Nein gescheitert ist. In unserem Text kommt das noch an einer anderen Stelle ganz deutlich zum Ausdruck. Jesus spricht das harte Wort vom Ausreißen des Auges und des Abschlagens der Hand, wenn sie zum Bösen verführen. Aber geht es da nicht genau eben um die tiefere Entschiedenheit? Ist es nicht vielleicht eben das große „Ja“, das durch das Wegnehmen alles Wegführenden gesprochen werden kann? Mir fallen viele Szenen ein, in denen ich eigentlich etwas weglegen, verlassen, abhacken oder ausreißen müsste, um entschieden bei dem einen oder anderen Ja oder Nein zu bleiben. Auch hier geht es wieder um eine sehr direkte, radikale und hohe Forderung Jesu. Wahrscheinlich scheitern wir immer wieder angesichts von solchen Erlebnissen. Und es wäre völlig falsch, jetzt ein strenges und strafendes Bild Jesu zu zeichnen, der doch der Barmherzige und von Herzen Demütige ist. Es beruhigt mich zu wissen, dass der Herr, der die Forderungen des heutigen Evangeliums stellt, derselbe ist, der das Gleichnis vom Barmherzigen Vater oder vom Verlorenen Schaf erzählt. Und doch meine ich, dass man sich nicht auf diesen Geschichten ausruhen darf. Der Aufruf Jesu zu einer klaren Entschiedenheit ist auch derjenige dazu, sich selbst und sein Leben zu überdenken.

Liebe Hörerin, lieber Hörer, seit vielen Jahren träume ich davon, einmal bei einer archäologischen Grabung in die Tiefe der Geschichte vordringen zu dürfen. Das Evangelium von diesem Sonntag lädt mich tatsächlich dazu ein, tiefer zu graben: Wir alle brauchen eine tiefere Gerechtigkeit, eine tiefere Ehrlichkeit und eine tiefere Entschiedenheit. Das klingt sehr schwer und nach einer richtig großen Aufgabe. Aber das Beste ist: wir müssen nicht alleine graben, im Gegenteil! Der Grabungsleiter ist der barmherzige und liebende Jesus Christus. Und der stellt uns nebenbei noch die besten Grabungshelfer an die Seite. Echte Freunde helfen beim Graben in die Tiefe.

Ich wünsche Ihnen einen tiefgehenden Sonntag!

(vatican news - sk)

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15. Februar 2020, 15:26