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Knorriger Preuße: Lothar de Maizière im Radio-Vatikan-Studio Knorriger Preuße: Lothar de Maizière im Radio-Vatikan-Studio

30 Jahre Mauerfall: Interview mit Lothar de Maizière

Er war, zusammen mit Helmut Kohl, in Deutschland der wichtigste Player bei der Wiedervereinigung – und trotzdem erkennt ihn heute kaum jemand auf der Straße. Lothar de Maizière, der erste und letzte frei gewählte Ministerpräsident der DDR, blickt als fast 80-Jähriger vor allem mit Dankbarkeit auf die Zeit vor 30 Jahren zurück.

Stefan von Kempis – Vatikanstadt

„Noch vor 35 Jahren hätte ich kaum denken können, dass die deutsche Einheit noch zu meinen Lebzeiten kommen würde“, sagte de Maizière bei einem Besuch in der Redaktion von Radio Vatikan in Rom. „Dass Kinder und Jugendliche von Riga bis Lissabon ohne Pass fahren können und ohne Visa. Dieser Zugewinn an Freiheit – auch dass man im Buchladen jedes Buch kriegt, das man gerne haben möchte, und nicht vorher schon gesagt wird, welches überhaupt gelesen werden darf.“

Allerdings habe die Einheit für die Menschen in den Beitritts-Bundesländern auch erhebliche Härten mit sich gebracht, etwa eine hohe Arbeitslosigkeit. „Von zwanzig Leuten, die heute in Brot und Arbeit stehen, ist nur noch einer in dem Betrieb, in dem er 1990 war, und im gleichen Beruf. Das ist also eine unglaubliche Transformations-Leistung, die von den Ostdeutschen erbracht worden ist: Ein neues politisches System, ein neues ökonomisches System, ein neues Bildungssystem, ein neuer Wertekanon. Das ist schon sehr, sehr anstrengend gewesen. Möglicherweise ist das auch die Ursache dafür, dass sie sich jetzt so fremdenfeindlich verhalten.“

„Wer die blühenden Landschaften nicht sieht, ist entweder blind oder blöd oder böswillig“

Der 1940 in Nordhausen geborene de Maizière, Spross einer bekannten hugenottischen Familie, war zunächst Orchestermusiker, musste dann aber wegen einer Nervenerkrankung im Arm die Musikkarriere aufgeben und wurde stattdessen Rechtsanwalt. Zum Zeitpunkt des Mauerfalls im November 1989 war er ein einfaches Mitglied der Ost-CDU – „noch nicht mal Kassierer“, wie er einmal beißend bemerkt hat. Die Wirren nach dem Mauerfall katapultierten ihn dann, weil er unbelastet war, zunächst an die Spitze der CDU und, bei den Volkskammerwahlen vom März 1990, an die Spitze der Regierung der untergehenden DDR.

Hier können Sie das ganze Interview mit Lothar de Maizière hören.

Von Kohl, dem „Kanzler der Einheit“ aus dem Westen, fühlte sich de Maizière, wie er heute beteuert, nicht „überrollt“. „Der Westen war eben dominant in dieser Situation. Die Ostdeutschen wollten ja quasi in den Westen rein.“ Wer die damals von Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ heute im Osten Deutschlands nicht sehe, der sei „entweder blind oder blöd oder böswillig“. „Die Infrastruktur Ostdeutschlands ist die modernste von ganz Europa; wir haben die modernsten Krankenhäuser, die Universitäten haben aufgeschlossen.“ Ein schwerwiegendes Problem sei allerdings die bröckelnde Demographie: „Es gibt Gegenden, wo kein Lebensmittelladen, keine Gaststätte, keine Schule mehr ist. So etwas wirkt sich natürlich auf die Stimmung aus – aber an sich sind wir auf dem richtigen Weg, auch gesamtdeutsch.“

Wiedervereinigung mit viel Kaffee und Zigaretten

Bei der Volkskammerwahl vom März 1990 holte das von de Maizière gegründete Wahlbündnis 48 Prozent – deutlich mehr als erwartet. Das machte dann den Weg zu einer Wiedervereinigung des gespaltenen Deutschland frei. Auf die Frage, wie er die Herausforderungen der Wendezeit damals gemeistert hat, sagt der Polit-Rentner: „Mit viel Kaffee, viel Zigaretten und wenig Schlaf.“

Ihn habe damals, wie viele andere, ein „emotionales Hochgefühl“ beherrscht: „Mein Gott, jetzt können wir alles nochmal ändern, wir können’s packen und für unsere Kinder richten – das hat uns unglaublich motiviert!“ Er sei damals morgens um halb sieben regelmäßig von einem Fahrer abgeholt worden, „und nachts um halb zwei, zwei Uhr war ich wieder zuhause und hab‘ dann noch die Kabinettsvorlagen für den nächsten Tag studiert“.

Anwalt von 16 Millionen Ostdeutschen

Am 12. April 1990 wurde de Maizière DDR-Regierungschef. Seine Hauptaufgabe: ein Aushandeln des Vertrags zur Wiedervereinigung. Der schmächtige, bebrillte Politiker sah sich dabei als Anwalt von 16 Millionen Ostdeutschen, die „in Würde“ über die Ziellinie der deutschen Einheit gehen sollten. Immer wieder kam es deswegen auch zu Auseinandersetzungen zwischen Ost-Berlin und der Westregierung in Bonn.

Als Ministerpräsident habe er damals immer wieder mit Problemen zu tun gehabt, „für die es eigentlich eine optimale Lösung gar nicht gab“. „Wie geht man zum Beispiel mit Enteignungs-Unrecht um? Wenn inzwischen jemand sagt: Das war das Elternhaus meiner Familie vor fünf Generationen, und der andere sagt: Es war aber auch das Elternhaus meiner Familie vor drei Generationen. Da finden Sie keine gerechte Lösung in der Mitte…“ Die Grundfrage habe gelautet: „Wie kann man nach Zeiten des Unrechts mit dem Recht nach Gerechtigkeit suchen, ohne neues Unrecht zu begehen oder gar dem Recht unrecht zu tun?“

„Wir machen hier etwas, das eine Jahrhundertaufgabe ist“

Er habe Glück gehabt, dass sein Verhandlungspartner beim Ringen um den Vertrag zur deutschen Wiedervereinigung der heutige Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Schäuble, gewesen sei. „Ein absoluter Spitzenpolitiker, wir sind auch heute noch eng befreundet. Wir wussten damals: Wir machen hier etwas, das eine Jahrhundertaufgabe ist.“ Mit Bundeskanzlerin Angela Merkel – 1990 seine stellvertretende Regierungssprecherin – sei er sich „in vielen, vielen Punkten einig“, allerdings kritisiert er ihre Russland-Politik. Schmallippig äußert er sich zu Helmut Kohl, mit dem irgendwann nach den Jahren der Wende der Kontakt abgerissen sei.

Vor dem Mauerfall war de Maizière u.a. Vizepräses der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Er gehörte zu den Kräften innerhalb seiner Kirche, die für die Kontakte zum kommunistischen System zuständig waren. Als juristischer Verteidiger von Dissidenten kam er um das Pflegen entsprechender Kontakte ohnehin nicht herum. Dass die Kirchen bei der Wende eine wichtige Rolle gespielt haben, erklärt er sich u.a. mit der DDR-Verfassung: Sie habe die strikte Trennung von Staat und Kirche festgeschrieben.

„Wir waren in der DDR-Zeit im Bereich der Ökumene wesentlich weiter, als wir es heute wieder sind“

„Vergleichen Sie das nur mal mit der Tschechoslowakei: Dort wurden die Priester und Pfarrer vom Staat ernannt. Und auch vom Staat bezahlt! Das war bei uns nicht so. Dadurch hatte die Kirche – hatten die beiden Kirchen ein hohes Maß an Selbständigkeit, und die Synoden wurden von der Bevölkerung hoch-aufmerksam verfolgt. Wir waren also auch, glaube ich, in der DDR-Zeit schon im Bereich der Ökumene wesentlich weiter, als wir es heute wieder sind.“ Die Menschen in der DDR hätten den Kirchen vertraut; das zeige sich etwa daran, dass bei so gut wie allen Runden Tischen der Wendezeit in der DDR Priester die Moderatoren gewesen seien.

Die Kassiererin erkannte ihn

„Vor einer Weile war ich in einem Lebensmittelgeschäft, und die Kassiererin sagte zu mir: Ah, Herr de Maizière! Ich sage: Woher wissen Sie meinen Namen? Kennen Sie mich? Antwort: Ich hatte Sie im Leistungskurs Geschichte! Das ist eigentlich schon ganz komisch, dass man Gegenstand des Geschichtsunterrichts ist…“ Er selbst habe „viele, viele Dinge“ aus der Zeit vor 1989 vergessen. „Aber die Zeit 89/90 ist so präsent. Die hat sich so eingebrannt in der Festplatte, dass man sich eigentlich noch an alles erinnern kann.“

„Ich habe dieses Rheinische nicht verstanden“

Nach der Wende amtierte de Maizière, der in einer wiedervereinigten CDU auch Kohls einziger stellvertretender Parteivorsitzender war, kurzzeitig als Minister für besondere Aufgaben in der Bonner Regierung. „Ich habe dieses Rheinische nicht verstanden“, sagt er heute, „und ich habe in meinem Leben selten emotional so gefroren wie in der Bonner Zeit. Zumal wir auch den Eindruck hatten, dass die Mit-Abgeordneten aus den alten Bundesländern nicht gerade auf uns gewartet hatten.“ Er ist froh darüber, dass Regierung und Bundestag nach heftiger Debatte gen Berlin umzogen: „Die Öffnung nach Europa wäre wahrscheinlich von Bonn aus in dem Maße nicht gelungen.“

Schon Ende 1990 trat de Maizière von seinem Ministeramt zurück. Zuvor waren Behauptungen lautgeworden, er sei inoffizieller Mitarbeiter der Stasi gewesen. Im September 1991 gab er auch seine Ämter in der CDU ab, kurz darauf schied er aus dem Deutschen Bundestag aus – das Ende einer bemerkenswerten Politikerkarriere.

„Die Unterschiede zwischen Bayern und Friesland sind ja auch enorm“

Zum Zusammenwachsen von Ost und West sagt de Maizière heute: „Geschichte denkt nicht in Jahren – Geschichte denkt in Generationen. Ich habe 1990 immer gedacht, der Wiederaufbau der historischen Stadtkerne und der Infrastruktur werde viel schwieriger werden als das innere Zusammenstehen; aber das Umgekehrte ist der Fall. Das gegenseitige Verständnis für das gelebte Leben ist immer noch nicht so gegeben.“ Er setze in dieser Hinsicht auf die jüngere Generation, die jetzt an die Hochschulen komme: „Die kennen Osten und Westen gar nicht mehr.“ Zur vielgeforderten Angleichung der Lebensverhältnisse bemerkt de Maizière: „Die Unterschiede zwischen Bayern und Friesland sind ja auch enorm. Aber die werden nicht mehr diskutiert, außer von Otto Waalkes…“

(vatican news)

Wir danken der Konrad-Adenauer-Stiftung dafür, dass sie uns das Interview mit Herrn de Maizière möglich gemacht hat.
 

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08. November 2019, 08:58