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30 Jahre Mauerfall: Was man heute daraus lernen kann

Der Direktor der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen, Thomas Arnold, hofft auf einen besseren gegenseitigen Austausch innerhalb der Kirche zur gemeinsamen Gestaltung von Zukunft.
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Vatican News: Auf den Tag genau vor 30 Jahren fiel die Mauer, die Deutschland lange Zeit getrennt hatte. Sie sind jetzt 31 Jahre alt. Haben Sie noch Erinnerungen an den Tag des Mauerfalls? Oder an die Empfindungen Ihrer Eltern damals?

Thomas Arnold: An den Tag, der vor 30 Jahren so einprägsam war, habe ich heute keine Erinnerungen mehr. Propst Gregor Giele von der Trinitatiskirche Leipzig nannte diesen Tag einmal das „Sahnehäubchen“. Im Untergrund hatte es in den Wochen und Monaten vor dem Mauerfall schon lange rumort. Das Rumoren und die Aussicht auf eine neue Freiheit haben aber auch Ängste mit sich gebracht. Das hat auch meine eigene Familie erlebt. Meine Mutter war damals mit mir noch zu Hause. Mein Vater war in Mühlhausen bei der NVA. Er war für 18 Monate einberufen. Er erzählte mir, wie in diesen Tagen die Waffenkammern offenstanden und nur noch der Befehl zur Handlung gefehlt hatte. Für ihn stand die Gewissensentscheidung im Raum: Gehe ich im Ernstfall raus und schieße auf die eigene Frau und das eigene Kind oder verweigere ich den Befehl und gehe dafür ins Gefängnis? Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht absehbar, wie die Situation ausgehen wird. Diese Erzählungen prägen unsere Familie ganz persönlich. Auf der anderen Seite habe ich später die Erfahrung gemacht, einer nächsten Generation anzugehören, die die Willkürherrschaft der DDR nicht mehr selbst erfahren hat. Ebenso wenig hat meine Generation diese Einengungen erfahren. Das betrifft auch die Religionsausübung. Gleichzeitig ist es eine Generation, die sich auf einmal die Frage stellen musste, wie sie die neue Freiheit gestalten möchte.

Vatican News: Sind selbst sind katholisch und haben das von Ihren Eltern in die Wiege gelegt bekommen. Wie hat man sich als Katholik in der ehemaligen DDR gefühlt?

Arnold: Der Katholizismus in Ostdeutschland hat auf eine andere Art und Weise als die evangelische Kirche gerungen, sich in den Staat einzubringen. Die evangelische Kirche hatte sich schon nach den Kirchenkämpfen der 50er-Jahre auf den Staat eingelassen – damit teilweise auch auf die Folgen in der Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit. Die katholische Kirche hat einen anderen Kurs gefahren. Dieser Kurs hat die Kirche auf der einen Seite davor geschützt, dass der Staat zu viel Einfluss in sie gewinnen kann. Auf der anderen Seite hat es dazu geführt, dass sich die Kirche oftmals aus politischen Dingen herausgehalten hat. Aber auch einige, die in den Zeiten der 80er-Jahre stille Helden waren, wurden zu wenig von offizieller Seite der Kirche gestützt. Auch das gehört zur Geschichte mit dazu.

Vatican News: Wie sah das Leben in den Gemeinden aus?

Arnold: Nach außen hat man sich klar abgegrenzt, aber nach innen hatten die Gemeinden ein enorm tragendes Sozialgefüge. Wenn wir auf die Grundvollzüge von Kirche schauen: liturgia, diakonia, martyria – da ist sicher martyria, Zeugnis geben, ein Element, das sehr wichtig war. Ein viertes Element, das in den vergangenen Jahren immer noch hinzugezogen wird, nämlich die koinonia, das heißt die Erfahrung von Gemeinschaft, trug auch nach 1989 viele Menschen. Während andere in Erfahrung gemacht haben, dass alles zusammenbrach, wirtschaftlich, aber auch, dass soziale Netze einfach wegbrachen, war es für Christen, besonders vielleicht auch für Katholiken, ein Halt, dass sie getragen wurden – zum Beispiel von anderen Gemeindemitgliedern.

Vatican News: Wie hat sich das Katholisch-Sein mit dem Mauerfall in Ostdeutschland dann verändert?

Arnold: Wir reden immer von den biographischen Brüchen um 1989. Die Kirche in Ostdeutschland kennt jedoch diese Brüche schon nach 1945. Die Erfahrung, dass Heimat verloren gehen kann und dass man sich neu auf Beziehungen einlassen muss, dass man vielleicht diskriminiert und benachteiligt wird – das alles ist der katholischen Kirche in Ostdeutschland nicht fremd. Dennoch: mit dem 9. November und allen daraus folgenden Konsequenzen – ich denke an dieser Stelle an den 19. Dezember 1989, die Rede von Helmut Kohl vor der Dresdner Frauenkirche, die freien Wahlen, die deutsche Einheit – das alles hat enorm viel für die Kirche in Ostdeutschland geändert. Auf der einen Seite ist sie Teil einer größeren Kirche in Deutschland geworden und konnte noch einmal Weltkirche ganz anders erfahren. Auf der anderen Seite hat sie gelernt, wie Strukturen, die sich in den alten Bundesländern bereits entwickelt hatten, in den neuen Bundesländern übernommen werden konnten.

Vatican News: Haben Sie dazu ein Beispiel?

Arnold: Zum Beispiel auch die Erfahrung von Religionsunterricht in den Schulen, die Erfahrung eines Kirchensteuersystems, die Erfahrung von vielen Freiheiten des Kirchenbaus. Das alles ist positiv zu bewerten. Diese Erfahrungen waren stützend, aber natürlich manchmal auch eine Herausforderung. Es ist eine wichtige und eine gute Erfahrung, diese Freiheit erleben zu dürfen – auch wenn manch einer vielleicht meinen mag, dass es früher leichter war. Was jedoch auffällt, ist, dass Kirche die neue Freiheit versucht hat, für sich zu nutzen. In den 90er-Jahren spricht aus Texten von Bischöfen und anderen Verantwortungsträgern eine große Hoffnung, ja eine Sehnsucht, jetzt ist endlich Kirche in Freiheit leben zu können und, dass Menschen jetzt wieder offen zu Gott finden können. Das merkt man zum Beispiel auch an den Kirchenbauten, die in Ostdeutschland auf einmal transparent und lichtdurchflutet wurden. Man merkt: Man will raus in die Gesellschaft gehen, man will Gott verkünden.

Vatican News: Was wünschen Sie sich an dieser Stelle für die Kirche in den nächsten 30 Jahren?

Arnold: Ich wünsche mir für die Kirche in Ostdeutschland, dass sie ich nicht als Minderheit wahrnimmt – weder als Minderheit in dieser Gesellschaft, noch als Minderheit in der gesamten Kirche in Deutschland. Ich bin der festen Überzeugung, dass der Synodale Weg in den kommenden Jahren ein Prüfstein werden kann – für uns insbesondere. Es wird sich zeigen, wie Ostdeutsche ihre Erfahrungen von Kirche-sein, von Religionen säkularer Gesellschaften, mit einbringen können. Die Erfahrung von Frieden, Gerechtigkeit und Einheit, die hier ihre Wurzeln hat, kann ein wichtiger Beitrag für den Weg der Kirche in Deutschland sein. Ich begrüße das Vorhaben von Bischof Bode sehr stark, eine Synode für Europa einzuberufen. Nicht nur die DDR ist anders geprägt, die etwas einbringen kann. Es ist der gesamte mittelosteuropäische Raum: Polen, Tschechien – alle können etwas zum neuen Kirche-sein beitragen. Es wird sich dadurch nicht alles radikal im Glaubensleben in Europa verändern, aber es kann ein wichtiger Beitrag für die Gesamtkirche sein. Deswegen wünsche ich mir eine Kirche, die den Mut hat, mit beiden Lungen zu atmen – wie es schon Johannes Paul II gesagt hat. Das können wir in Deutschland einüben und auf ganz Europa übertragen.

Das Gespräch führte Julia Rosner.

(vatican news)

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08. November 2019, 11:37