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Sonntagabend: Menschen in der Zeit - Bernd Hüttemann

Bernd Hütteman, Vizepräsident der Europäischen Bewegung International und Generalsekretär der Europäischen Bewegung Deutschland ist europapolitischer Berater der katholischen Deutschen Bischofskonferenz. Im folgenden Gespräch werden wir entdecken, dass Europa – wie Papst Franziskus sagt - auch einer Seele bedarf.

Über die Zukunft Europas wird viel gerätselt, viel nachgedacht und debattiert. In dieser Debatte kursieren sehr unterschiedliche Konzepte. Wie sieht die EU in Zukunft aus? Bedarf es einer magischen Zauberkugel? Welche Szenarien sind wirklich reell und denkbar? Welche Visionen tragen sie in sich?

Vor 70 Jahren ist die europäische Bewegung in Europa gegründet worden. Wer sich 1948 überlegt hätte, wie Europa im Jahre 2018 aussieht, der hätte wahrscheinlich mehr als eine Kugel gebraucht, um das wirklich zu verstehen. Wir sind heute in einer Situation, in der es wahnsinnig viele Unsicherheiten gibt. Ich bin mir aber sicher, dass wir durchaus eine vernünftige Zukunft haben, wenn wir Chancen ergreifen und das, was wir haben, verdichten und richtig setzen.

In der Debatte um die Europäische Integration stehen sich zwei oder mehr Positionen gegenüber. Die einen fordern mehr Europa in Form einer politischen Union, die anderen wollen die Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten stärken. Unbestritten ist, dass die wirtschaftliche und politische Integration Europas eng zusammenhängen. Wird sie kommen, diese politische Union?

Es gibt Rechtswissenschaftler, die sagen, es gäbe schon längst eine politische Union. Die Frage ist, wie man Politik definiert. Die EU ist nicht für alles zuständig und darf es auch nicht sein. Es gibt natürlich unterschiedliche Vorstellungen darüber, ob man die EU für alles verantwortlich machen sollte, ob sie die Verantwortung tragen darf. Wir sind in einer Situation der Gleichzeitigkeit. Die EU hat bereits Gesetze, die umgesetzt und respektiert werden. Wie in jeder politischen Eben kann es aber auch vorkommen, dass diese Gesetze nicht respektiert werden. Dann haben wir ein Problem.

Mit der politischen Einigung?

Ein Problem mit der politischen Einigung. Man muss es aber offen sagen. Wir sind soweit. Wir haben tatsächlich eine gemeinsame Politik, die sehr weitgehend ist. Und das muss man respektieren. Wenn man das nicht tut, wird die Politik oft falsch gemacht. Dann macht es Menschen Angst, und wenn es den Menschen Angst macht, ist es nicht akzeptiert. Dann haben wir ein Problem.

Was ist Europa für Sie? Auf diese Frage gibt es so viele Antworten wie Menschen in der EU. Doch sind EU-Bürger auch Europäer – richtige, wichtige Europäer oder anders gefragt: Welche Maßstäbe können und sollten angelegt werden, um Europa zu definieren?

Ich bin zunächst einmal für Integration und nicht für Europa als Kontinent alleine. Der ist natürlich wunderbar, ein vielfältiges, pluralistisches Gebilde. Das kann ich an Europa nur lieben. Gleichzeitig aber auch das Einende. Mich freut es, wenn Menschen eine ähnliche Konfession haben, eine ähnliche Sprache, eine Mode, eine Ausrichtung. Das ist ein wichtiger Punkt. Aber für mich ist Europa erheblich mehr, als die Europäische Union. Ganz salopp gesagt: Da wo Sie mit drei Stunden Flug hinkommen, da ist Europa von Berlin aus.

Wie haben Sie herausgefunden, dass sie Europa ins Herz geschlossen haben. Man merkt, mit welchem Enthusiasmus, mit welcher Begeisterung Sie über Europa sprechen. Stammen Sie aus einer Familie, die Europa schon aufgenommen hatte, ist Ihnen das in die Wiege gelegt worden?

Ich komme aus einer deutschen Familie. Und diese deutsche Familie hat noch den Krieg erlebt. Ich bin Jahrgang 1970 und trotzdem gehöre ich noch zu der Generation, die die Menschen gut kennt, die den Krieg erlebt haben. Wir sind viel gereist– meistens mit dem Auto nach Italien. Meine Familie wuchs in Paderborn auf - einer Region, die katholisch geprägt ist. Für mich war das völlig normal, dass meine Großmutter nach Rom gepilgert ist und andere Städte gesehen hat. Das Universaldenken auch im Katholischen finde ich sehr wichtig.

Soll die EU von Lappland bis an den Irak reichen oder am Bosporus enden? Was ist mit den östlichen Nachbarn der EU, mit Weißrussland oder der Ukraine? Sollen sie auf kurz oder lang beitreten können?

Die EU ist nicht Europa. Und natürlich kann die EU, wie sie jetzt ist, nicht ganz Europa aufnehmen. Das geht nicht. Sie muss sich reformieren, oder es muss andere Formen der Kooperation geben. Das ist auch keine rein geographische Fragestellung. Zypern gehört auch zu Europa, ist aber rein geographisch eine asiatische Insel. Wir brauchen einen Rechtsraum, der verschiedene Auswirkungen hat. Er muss beständig sein, stark, er muss den Menschen dienen, dem Humanismus und der Freiheit. Das ist zu schaffen, da gibt es einen Kernbereich, da gibt es aber auch Außenbereiche.

Ist der Welt-Klimarat glaubwürdig? Wurde der jüngste Klimagipfel in Paris den hohen Erwartungen gerecht und welche Ziele kann die EU auf dem Weg des Klimaschutzes in der Realität erreichen?

Klimaschutz, Umweltschutz ist einer der Bereiche, der nicht nur europäisch sondern weltweit gelöst werden muss. Da können Sie jede Bürgerin und jeden Bürger in Europa fragen. Wenn sie eine Politik auf europäischer, sogar auf Weltebene brauchen, um ein Problem zu lösen, dann muss sie dort auch adäquat gemacht werden. Das gehört auch zur Subsidiarität. Viele Leute sagen, nicht immer nur ist die unterste Ebene gut – manchmal auch die oberste. Das kommt auch von der katholischen Soziallehre.

Einwanderung ist für die wirtschaftliche und demographische Zukunft der EU unverzichtbar. Aber wie soll die EU mit Migration umgehen?

Wichtig ist immer zu betonen: Die EU ist nicht als solche alleine. Sie besteht aus ihren Mitgliedstaaten, aus einem Europäischen Parlament, Administration und einer Art Regierung, der Europäischen Kommission. Das muss gemeinsam gelöst werden. Kann ein einzelner Nationalstaat in der Frage der Migration überhaupt etwas lösen? Kann er nicht. Die Dublin-Verordnung ist ein großer Fehler gewesen, den wir als EU immer wieder kritisiert haben. Es geht darum, dass man nur in den Ländern Asyl beantragen kann und als Flüchtling ankommen darf, die an der Außengrenze liegen. Es kann aber nicht sein, dass nur die äußeren Länder dafür zuständig sind, mit den wahnsinnigen Problemen, die Europa in Afrika und im Nahen Osten mitverursacht haben, klarzukommen. Insofern ist die Solidarität eigentlich immer gleich eine europäische Solidarität. Es gibt natürlich große Ängste, gleichzeitig aber auch ganz klare Ansagen, was man zu tun hat. Denn es geht hier darum, dass wir uns nicht wie ein Vogelstrauß verstecken dürfen.

Das wäre der positive Aspekt der Migration. Natürlich ist der negative Aspekt vordergründiger oder verbreiteter. Gibt es die Migration die in Europa herrschenden Menschenrechte bilanzieren kann?

Wir sollten in Europa nicht auf so einem hohen Ross sitzen. Viele Länder Europas sind verantwortlich für die Migration, die heute da ist - der Kolonialismus, der Imperialismus, Ausbeutung in anderen Ländern. Insofern müssen wir uns nicht wundern und die Zahlen anschauen. Die meisten Flüchtlinge auf dieser Welt sind nicht in Europa. Die größte Last müssen die Länder vor Ort tragen. Ich habe selbst vor drei Jahren im Libanon noch erlebt, wie viele Menschen in einem so kleinen Land mit so vielen Konflikten hausen müssen. Für mich war es dann kein Wunder mehr, dass sich diese Menschen auf nach Norden gemacht haben. Das ist unser Problem.

Die Wurzeln Europas liegen unbestritten in der griechischen Philosophie und seit 2000 Jahren im Christentum. Muss ein neues Werteverständnis gefunden werden in dem Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wieder ihre Rolle spielen – genauso, wie sich die soziale Marktwirtschaft in anderen Ländern durchgesetzt hat? Und wie kann das Streben nach einer Europäischen Werteordnung in sinnvoller Weise ihre Ziele durchführen?

Ich habe mich in meiner Beratertätigkeit sehr häufig zu der Frage unterhalten: Muss man tatsächlich vom Abendland so viel reden? Abendland und Morgenland – das sind zwei Begriffe, die auch für die meisten Historiker nicht besonders stark unterstreichen. Sie sagen, es gab einen Austausch zwischen verschiedenen Kulturen und Bereichen und manch eine Kultur – auch das Christentum – kommt eben nicht aus dem geographischen Europa. Das vergessen wir häufig. Das tut mir weh. Wir reden von einem Westeuropa, einem lateinischen Europa. Selbst Protestanten merken das gar nicht. Die merken nicht, wie sehr man doch auf Westeuropa fixiert ist. Und das, was jetzt in Ost- und Mitteleuropa verbreitet ist, das ist ja keine Orthodoxie, das ist kommunistisch geprägt. Jetzt haben diese Gebiete ganz große Probleme mit dem, was wir ihnen versuchen zu oktroyieren. Es ist ein ganz großes Geben und Nehmen, aber wer sich die europäische Geschichte anschaut, und weiß, welche Kultur das hervorgerufen hat, der weiß auch, das Geben und Nehmen war nicht nur blutig. Es war vor allem auch wahnsinnig human. Auf den Humanismus müssen wir Wert legen und nicht auf das Abendland.

Europa muss nach den Worten von Papst Franziskus wieder zu Solidarität und einer neuen Dialogkultur finden. Eine Europäische Union, die bei der Bewältigung ihrer Krisen nicht den Sinn wiederentdeckt, eine einzige Gemeinschaft zu sein, die sich unterstützt und hilft, und nicht ein Gebilde kleiner Interessengruppen ist, verlöre nicht nur eine der wichtigsten Herausforderungen ihrer Geschichte, sondern auch eine der größten Chancen für ihre Zukunft, so der Papst wörtlich. Ein prophetischer Fingerzeig?

Zunächst ist es natürlich sehr hilfreich, dass der Papst darauf hinweist, wie wichtig Zusammenhalt und Integration sind. Europäische Integration – da ist das Wort Integration wichtiger, als Europa. Wichtig ist, dass wir den Pluralismus, die Vielfältigkeit bewahren müssen. Auch der Minderheitenschutz ist ein ganz entscheidender Punkt. Es ist nicht nur eine ethnische Frage, dass die Frage der Pluralität Europas wirklich gewahrt wird, sondern auch eine Angehörigkeit des Glaubens oder Nicht-Glaubens. Diese Einheit in der Vielfalt, wie es ja auch in der Berliner Erklärung gesagt wurde, muss jeder unterstützen. Sonst wäre Europa ein ganz armer Kontinent, das wäre Totalitarismus. Einigen Herren in nationalen Ländern würden das besonders gerne unterstreichen. Dass es der Papst nicht, tut ist gut.

Wenn die Europäische Union nicht wieder zur Solidargemeinschaft wird, wird sie vor einer der wichtigsten Herausforderungen ihrer Geschichte versagen und eine der größten Chancen für ihre Zukunft verpassen. Europa braucht eine neue Seele, war eine der eindrucksvollsten Aussagen des katholischen Kirchenoberhauptes und Karlpreisträgers in einer seiner vier großen Ansprachen über Europa. Wie soll diese Seele aussehen? Was wird sie bewirken?

Ich glaube, diese Seele sollte auf keinen Fall Furcht haben vor dem was kommt, sondern guten Mutes sein. Wir können uns das Ganze auch schlecht sehen. Wir müssen die Probleme sehen und benennen, wir müssen die Nöte der Minderheiten sehen, die auf diesem Kontinent da sind. Die Leute, die Angst haben vor dem Fremden muss man mitnehmen und beachten. Aber gleichzeitig dürfen wir nicht den Mut verlieren. Wir nehmen möglichst viele mit und lassen niemanden zurück. Es gibt immer die Möglichkeit, über die Zeit die Zurückgebliebenen wiederzuholen und das müssen wir für die Zukunft Europas am meisten in Forderung stellen.

 

Aldo Parmeggiani

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19. Oktober 2018, 16:34