Menschen in der Zeit Menschen in der Zeit  

Menschen in der Zeit: Düzen Tekkal

„Kein Weg geht an der Frau vorbei“ – so lautet einer der Grundsätze der gebürtigen Hannoveranerin, Journalistin und Kriegsberichterstatterin. Die deutsche Jesidin bringt Erfahrungsberichte aus der Hölle des Irak in unsere Welt mit. Damit möchte sie deutlich machen, wie wichtig es ist, für Frieden und Freiheit zu kämpfen. Eine Sendung von Aldo Parmeggiani:
Zum Nachhören - Die Sendung von Aldo Parmeggiani

Frau Tekkal, Sie sind zur „Frau Europas 2018“ gekürt wurden und reihen sich damit in eine lange Liste von Ihren bekannten Vorgängerinnen seit 1991 ein. Sie sind Jesidin, das heißt sie gehören, obwohl Sie in Deutschland geboren sind, einer kurdischen Minderheit an. Diese unterstützen Sie durch den von Ihnen gegründeten Hilfsverein HAWAR.help. Sie sind Integrationsexpertin und haben auf diesem Gebiet viele Erfahrungen gesammelt. Sie können in Deutschland lebenden Jesiden konkrete Unterstützung anbieten. Sie sind außerdem Journalistin, Buchautorin und Kriegsberichterstatterin, das heißt Sie tragen wesentlich zur öffentlichen Meinungsbildung bei. Sie stehen demnach beruflich und persönlich in der Mitte der heutigen Gesellschaft.

Migration und Integration stehen ja zurzeit an der Spitze täglicher Grundsatzdiskussionen und schwieriger, politischer Entscheidungen – übrigens nicht nur in Deutschland, sondern europaweit. Wie könnte in naher Zukunft das „Zauberwort“ heißen, das diesem Phänomen auf sozialem, gesellschaftlichen und politischen Gebiet einen verantwortungsvollen Weg anzeigt und einer möglichen Lösung führen könnte?

Tekkal: Als „Frau Europas“ kann ich darauf nur antworten: es gibt bei der Lösung der globalen Probleme, die uns mittlerweile weltweit ereilen, keinen Weg an der Frau vorbei – sei es die Frage der Völkerwanderung, sei es die Frage von Rassismus oder der aufkeimende Nationalismus. Das ist Dreh- und Angelpunkt meiner Arbeit. Mit meinem Team lege ich bei meiner Arbeit für die Krisenregionen im Irak, in der Region Kurdistan, aber auch hier, großen Wert darauf, dass wir die Frauen stärken und mit dem Wissen befähigen, Teil der Diskussionen zu sein. Dazu gehören auch Geld und Macht.

Kurdische Jesiden schauen auf eine uralte Geschichte zurück. Sie sind ein Volk, das im Kurdengebiet des Nordiraks beheimatet ist. Dort werden sie seit langem diskriminiert und verfolgt. Immer mehr Jesiden leben heute deshalb in der Diaspora. Wie sieht es in Deutschland aus?

Tekkal: Deutschland spielt dabei eine ganz wichtige, tragende Rolle. Die Jesiden, die hergekommen sind – die ersten vor über 60 Jahren im Zuge der Gastarbeiteranwerbung – sind mittlerweile sogenannte „Watch dogs“ geworden. Das heißt: die Jesiden hatten hier, im Gegensatz zu der Herkunftsregion aus der wir kommen, die Möglichkeit, nicht nur ums Überleben zu kämpfen, sondern ein Leben zu gewährleisten. Das haben wir ganz intensiv an der Erziehung unserer Eltern gemerkt. Sie haben immer gesagt: wenn andere im Bereich Bildung 100 Prozent geben, dann müsst ihr 200 Prozent geben. Sie wollten damit zum Ausdruck bringen, dass sie keine Chance hatten und, dass wir diese Chance, die sie mit der Migration in der Diaspora erkämpft haben, sinnvoll nutzen sollen. Das hat zur Folge, dass in Deutschland mit ungefähr 130.000 Jesiden die größte Diaspora lebt. Wir sind über die ganze Welt verteilt. Auf Grund der jahrhundertelangen Unterdrückung sind viele Jesiden auf der Flucht. Andere Jesiden leben in der Diaspora. Selbst im Irak gibt es zurzeit fast 300.000 Binnenflüchtlinge, weil die Aufarbeitung des Genozids von 2014 bis heute anhält. Viele Jesiden sollen in die Dörfer zurückgehen, wo ihre Kinder vergewaltigt worden sind, wo ihre Väter enthauptet worden sind. Auch die Nachbarn, die sich damals schuldig gemacht haben und mit dem sogenannten IS gemeinsame Sache gemacht haben, sollen ebenfalls zurückkehren. Das bürgt Sprengstoff. Deswegen sagen die Jesiden zurecht: keine Vergebung und keine Gerechtigkeit ohne Aufarbeitung und Strafverfolgung der IS-Täter.

Das Jesidentum ist eine der ältesten monotheistischen Religionen überhaupt – älter als das Christentum und der Islam. Frau Tekkal, ist Ihre Religion vom Aussterben bedroht?

Tekkal: Leider ist diese Religion in der Tat vom Aussterben bedroht, denn im Gegensatz zu den abrahamitischen Religionen gibt es bei uns nicht den Gedanken des Konvertierens oder des Missionierens. Das heißt, als Jeside kann man nur geboren werden. Außerdem kann man als Jeside nur Jesiden heiraten. Das bürgt viel Konfliktpotenzial. Diese strenge Heiratsregel kam zustande, weil das, was der sogenannte IS mit den Jesiden macht, schon immer so war. Das heißt, die Welt erfährt zum ersten Mal davon, was mit den Jesiden passiert. Die Jesiden werden jedoch verfolgt, seitdem es sie gibt. Der Fortbestand dieser Religion, die eine der ältesten Religionen des mittleren und Vorderen Orients ist, ist somit die größteHerausforderung.  Deren Geschichte geht bis auf 4000 Jahre vor Christus zurück. Die Experten – auch unter den Jesiden – unterscheiden verschiedene Arten des Völkermords. Da ist zum Ersten der „Weiße Völkermord“. Das ist die Vertreibungspolitik, die beispielsweise die Jesiden der Türkei ereilt hat. Dort leben mittlerweile kaum noch Jesiden. Parallel dazu gibt es den „Roten Völkermord“. Das ist das, was der sogenannte IS gezeigt hat, nämlich der blutige Völkermord. An der dritten Stelle gibt es noch den eigenen Völkermord, den wir an uns begehen, wenn wir uns nicht trauen, Fragen nach Reformation zu stellen. Wenn wir so weitermachen wie bisher, dann wird es zwangsläufig irgendwann keine Jesiden mehr geben. Das wäre wirklich schade. Deshalb erachte ich es als eine unserer größten Aufgaben, dass wir innerjesidisch zum Beispiel die Heiratsregel diskutieren, dass wir das Kastensystem diskutieren und kritisieren und, das gerade wir als Frauen, die immer kämpfen mussten – auch um Geschlechtergerechtigkeit, das entscheidende Zünglein an der Waage sind. Wie würden Sie das Verhältnis der Jesiden zum Christentum beschreiben?

Tekkal: Ich würde das Verhältnis der Jesiden zum Christentum sehr positiv beschreiben. Wir hatten natürlich viele Gemeinsamkeiten aufgrund der Tatsache, dass wir gemeinsam ums Überleben kämpfen, mussten – im Irak, in Syrien, im Iran, in der Türkei. Ich kann mich an die Geschichten meiner Großmutter erinnern, die zur Zeit der Armenierverfolgung Christen bei sich aufgenommen hat. Damals brauchten die Christen Schutz. Viele Armenier und Christen sind auch in jener Region, die heute zu trauriger Berühmtheit im Völkermord an den Jesiden gekommen sind, geflohen. Die Beziehung der beiden an dem Ort war immer von gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Toleranz geprägt. Das war ein Ort des Friedens. Meine Oma hat immer gesagt: „Die wollten nichts von uns.“ Ich erinnere mich auch an meine Eltern. Sie haben immer gesagt, dass sie gern bei Christen einkaufen gegangen sind. Man wurde respektvoll behandelt. Man wurde nicht stigmatisiert, weil man Jeside war. Das war von unschätzbarem Wert. Insofern kann man sagen, dass es immer ein sehr, sehr enges Band war. Wir haben aber auch die Muslime unterschiedlich erlebt. Wir haben sie nicht nur als Verfolger kennengelernt, sondern auch als Beschützer. Die Jesiden waren vogelfrei, weil sie nicht als Religionsanhänger seitens der strengen Auslegung des Islams bezeichnet wurden sind. Sie waren auf Muslime angewiesen, die ihre schützende Hand über sie legten – auch das hat es gegeben, neben all den Unterdrückungs- und Zwangsislamisierungsversuchen.

In Deutschland gibt es gerade in diesen Tagen den Fall der Jesidin Aschwak Hadschi Hamid Talo. Sie ist aus Deutschland geflohen und hat der deutschen Polizei Unfähigkeit vorgeworfen. Die 19-Jährige lebt jetzt in einem Flüchtlingslager im Norden des Iraks. Deutschland sei zu unsicher, sagt sie. Ist Deutschland für Jesiden unsicherer geworden?

Tekkal: Ich glaube nicht, dass Deutschland unsicherer als der Irak ist. Es ist trotzdem eine Bankrotterklärung von uns allen, wenn eine junge Jesidin, die aus IS-Gefangenschaft befreit worden ist und ein Martyrium durchlaufen hat, sich hier nicht mehr sicher fühlt. Was uns mit Sorge erfüllt, ist, dass wir Aschwak nicht das Versprechen geben können, dass es hier nicht passieren könnte, dass sie ihrem Täter begegnet. Wir wissen, dass sich auch IS-Täter im Zuge der Flüchtlingsbewegung auf den Weg nach Europa gemacht haben und, dass auch unter uns Menschen sind, die nicht Verfolgte sind, sondern Verfolger waren. Es gibt hunderttausende, die unregistriert ins Land gekommen sind und die man nicht von Seiten der Sicherheitsbehörden kontrollieren konnte. Das ist bis heute so. Insofern glaube ich schon, dass wir da noch Lücken haben, die intensiv und ehrlich diskutiert werden müssen. Wir müssen das Asylgesetz auf der einen Seite und die Integrationspolitik in unserem Land auf der anderen Seite überdenken. Eine Politik, die Gleichmacherei betreibt – nach dem Motto: „alle Flüchtlinge sind gleich und schutzbedürftig“ bringt viel mehr Probleme zutage, als wenn wir mehr differenzieren würden. Um es einmal anders zu sagen: Auch die Opfer eines Assad-Regimes können Islamisten sein. Und auch Islamisten, die sich in unserem Land selbst anzeigen, erhöhen die Chance auf Bleiberecht. Die sind unangenehme Themen, aber diese gilt es zu diskutieren. Wenn wir da nicht diskutieren, passiert genau das, was wir in Chemnitz gerade in diesen Tagen erleben. Dann benutzen die Rechtspopulisten diese Probleme gegen uns als Mehrheitsgesellschaft. Das dürfen wir nicht zulassen.

Nach der Vertreibung der Christen aus Mossul im Irak begann der sogenannte Islamische Staat mit der Vernichtung und der Verfolgung der Jesiden. Die Jesiden bezeichnen ihn als Völkermord und als den 79. Genozid in ihrer bisherigen Geschichte. Sie, Frau Tekkal, haben als Kriegsberichtserstatterin darüber erschütternde Berichte in einem Buch zusammengefasst. Können Sie bitte ein paar Worte zu diesem Buchen sagen?

Tekkal: Dieses Buch, „Deutschland ist bedroht – Warum wir unsere Werte verteidigen müssen“, wäre niemals entstanden, wenn ich nicht unfreiwillig zur Chronistin eines Völkermords geworden wäre – an meiner Religionsgemeinschaft. Das hat mein ganzes Leben verändert. Es war ein „Life changing moment“, der mich dazu bewogen hat, 100 Prozent in diese Arbeit zu stecken. Das, was ich dort gesehen habe, kann ich einerseits nie vergessen, aber es hat mich nicht dahingehend erstarren lassen, dass wir auf dieser Welt nichts ändern können. Aus den Ruinen des Völkermords gilt es – wie wir es von unseren jüdischen Freunden gelernt haben– Stein für Stein neues Leben aufzubauen. Das ist, gerade wenn man betroffen ist und die Rolle einer Berichterstatterin einnehmen muss, ein Dilemma und eine große Herausforderung. Für mich war es jedoch die Aufgabe meines Lebens. Obwohl mich alle gewarnt haben, seinerzeit dort nicht hinzufahren, war es für mich keine Frage, dort nicht hinzufahren und diesen Völkermord nicht zu dokumentieren. Das war zu einer Zeit, in der sich niemand für das Schicksal der Jesiden interessiert hat.  Dennoch haben uns täglich Anrufe ereilt. Es war etwas, das ich nie bereut habe, denn wir wurden gebraucht – jeder Einzelne von uns. Diese Arbeit hält bis heute an und wahrscheinlich auch noch über mein Leben hinaus. Es geht darum, präventiv dort einzuwirken, wo die Entmenschlichung von Menschen beginnt, wo Unterschiede gemacht werden und wo die Entstehung von Feindbildern zu Nutze gemacht werden. Da müssen wir aufstehen – ob das im Irak, in Syrien oder in Deutschland passiert.

Wie beurteilen Sie das bisherige Pontifikat des Oberhauptes der katholischen Kirche, Papst Franziskus?

Tekkal: Ich finde es sehr beeindruckend, dass er von Anfang an große Anteilnahmen an dem Schicksal der Jesiden hatte. Er hat die Jesiden schon mehrfach erwähnt. Noch wichtiger finde ich, dass er sie eingeladen hat. Er hat sowohl die UN-Sonderbotschafterin, Nadja Murad, als auch eine Delegation von Jesiden empfangen. Ich wünsche mir, dass dieser Austausch im Sinne der Humanität weitergeht. Es gibt viele Menschen, die sagen, Religion sei nicht wichtig und Religion dürfe nicht verhaltensbestimmt sein. Man kann jedoch Religion nicht wegdrücken. Sie ist identitätsstiftend und kann als ein Teil von Identität gewinnstiftend sein und verbinden, anstatt zu spalten. Das sind die Kräfte, auf die wir künftig gemeinsam setzen können.

Hintergrund

Die jesidisch-kurdischen Eltern von Frau Tekkla flohen von der Türkei nach Deutschland. Sie selbst wurde in Hannover als eines von elf Kindern geboren, wuchs dort auf studieret Politik- und Literaturwissenschaft. 2010 erhielt sie den Bayrischen Fernsehpreis. 2015 hatte ihr Dokumentarfilm „Meine Reise in den Genozid“ auf den internationalen Hoffilmtagen seine Deutschlandpremiere. 2018 erhält sei den Preis „Frau Europas“ der europäischen Bewegung Deutschland. Als Fernsehjournalistin, Autorin und Kriegsberichtserstatterin macht sich die Hannoveranerin für Friedens- und Freiheitswerke stark. Sie setzt sich für eine pluralistische, integrative und demokratische Gesellschaft ein – eine Gesellschaft, die Extremismus bekämpft und Minderheiten schützt. Ihr Werbespruch und zugleich ihre Lebenshaltung lautet: „Kein Weg geht an der Frau vorbei“.

(vatican news)

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30. September 2018, 13:57